Rasch fuhr Lia die menschenleeren Straßen entlang auf dem Weg nach Hause. Der Samstag war bereits weit vorangeschritten und die Sonne hatte sich wieder hinter den Horizont geflüchtet und dem noch immer sehr voll erscheinenden Mond Platz gemacht, der mit seinem bleichen Licht jedoch kaum die kahlen Vorgärten erhellen konnte. Nebel zog allmählich auf,wie es um diese Zeit des Jahres typisch war. Vage erinnerte sich Lia an Juanas Party, die ja heute Abend stattfinden sollte und fast zeitgleich fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ja mit Nathan für den Abend verabredet gewesen war. Sie tastete im Fahren nach ihrem Handy, doch das hatte sie in all der Aufregung zu Hause liegen lassen, als sie am Morgen zu Sera aufgebrochen war. Die neuen vielen Eindrücke hatten ihre Gedanken ganz in Beschlag genommen und ließen sie auch jetzt nicht los.
Um diese Uhrzeit hatten sich die Menschen bereits in die wohlige Wärme ihrer Häuser geflüchtet, durch deren Fenster das warme Licht nach draußen fiel. Lia konnte deutlich die entspannten Unterhaltungen hören, die sich um belanglose Dinge drehten und meist ebenso rasch versiegten, wie sie begonnen hatten, ersetzt vom stetigen Murmeln der Fernseher.
Endlich tauchte vor ihr die Abzweigung Richtung Wald auf. Sie sprang vom Rad, denn diesen unbeleuchteten Wegabschnitt wollte sie lieber zu Fuß bestreiten. Laut raschelte das Laub unter ihren Füßen und ab und zu sprang ihr Fahrrad über eine verborgene Unebenheit auf dem Waldboden. Diese Strecke war der Grund, weshalb sie eigentlich nur ungern bis abends fortblieb, denn hinter den dichten Sträuchern am Wegesrand verschwanden die Lichter der Stadt und so kam ihr bei Dunkelheit jedes Mal ein beklemmendes Gefühl auf, wenn sie hier entlang kam. Die dürren Äste der Bäume wurden im flackernden Licht der Fahrradleuchte zu gierigen Fingern, die nur darauf warteten, ihre Opfer zu packen und das Knacken der Äste jagte ihr kalte Schauer über den Rücken- zumindest normalerweise.
Doch heute schien der Weg bei weitem nicht so düster zu sein, wie gewöhnlich. Lia konnte die Schemen der Bäume sogar außerhalb des kleinen Lichtkegels der Fahrradlampe deutlich ausmachen, jedes Blätterrascheln war ein einzigartiger, vielschichtiger Klang. Die Dunkelheit bedrängte sie nicht mehr, vielmehr fühlte sich Lia wie ein Teil davon. Sie holte tief Luft und blieb überrascht stehen. Hunderte verschiedene Gerüche drangen auf sie ein, vertraute, wie der erfrischende Geruch feuchten Waldbodens, aber auch unbekannte, vollkommen fremde. Da war etwas, das sie entfernt an Pferdegeruch erinnerte. Reh, schoss es ihr durch den Kopf. Ein prickelndes Gefühl bereitete sich in ihr aus. Unglaublich, ich kann sogar Rehe riechen! Sie tat einen weiteren tiefen Atemzug, begierig darauf, diesen bisher so vernachlässigten Sinn weiter zu erforschen.
Nun, wo sie still stand, und das Licht des Fahrrads langsam schwächer wurde, schien ihre Umgebung immer deutlicher zu werden. Selbst die unebene Rinde der Bäume konnte sie deutlich erkennen. Ein leises Rascheln drang an ihr Ohr. Lia wandte den Kopf, versuchte dem Geräusch weiter nachzugehen. Eine kaum spürbare Brise veränderte die Gerüche um sie herum und trug einen neuen mit sich. Nagetier, vermutlich Maus. Während sie noch mit schief gelegtem Kopf in die Nacht lauschte, wurde Lia bewusst, was sie da eigentlich tat.
Das ist doch verrückt. Ich stehe im Wald und kann riechen, dass sich am Weg eine Maus versteckt. War das alles eine Nachwirkung ihrer Verwandlung? Es musste so sein, denn eine andere Erklärung, warum ihre Sinne von einer Nacht auf die andere plötzlich so viel schärfer geworden waren, fiel Lia nicht ein.
Plötzlich schreckte sie ein lautes Röhren auf. Sie drehte sich um, doch der Weg war noch immer menschenleer. Während das Röhren immer lauter wurde, tauchte plötzlich ein Licht hinter ihr am Ende des Weges auf. Langsam holperte ein silberner Roller über den Weg und hielt neben ihr an.
„Hi, Lia." Nathan zog seinen Helm über den Kopf und klemmte ihn sich unter den Arm.
„Nathan!" Sie umarmte ihn überrascht. „Was tust du denn hier? Und seit wann ist dein Roller so laut?"
„Wie bitte?", fragte er verdutzt. „Lauter geworden ist er ja wohl nicht." Er fuhr sich mit der freien Hand durch die blonden Haare.
„Ich dachte, ich komme mal hier vorbei, weil du den ganzen Tag nicht auf meine Nachrichten geantwortet hast. Ist irgendetwas passiert?", wollte er wissen.
„Nein, nein, nichts.Ich war nur den ganzen Tag ziemlich beschäftigt – außerdem habe war ich doch heute Mittag bei dir zuhause und wollte dich besuchen, aber du warst nicht da."
„Ach so." Nathan lachte. „Das kann ja mal passieren."
„Es tut mir wirklich leid, ich hatte unsere Verabredung einfach total verplant", murmelte Lia zerknirscht.
Nathan hob beruhigend die Hände. „Hey, ist doch alles gut. Sowas ist mir doch auch mal passiert, wenn du dich an die Geschichte mit der Leiter erinnerst..."
Lia schnaubte. „Wie könnte ich das vergessen?"
„Na also. Das mit dem Kino wird wohl auch nichts mehr, oder?"
„Oh, verdammt!" Lia schlug sich vor die Stirn. „Das hatte ich ja ganz vergessen." Entschuldigend sah sie Nathan an, doch sie war nicht wirklich bei der Sache. Noch immer wirbelte in ihrem Kopf alles durcheinander.
Nathan lachte. „Kein Problem. Um ehrlich zu sein bin ich sogar ganz froh, dass wir die Sache abblasen, Marek, dieser Idiot, hat mir heute einfach den ganzen Film gespoilert. Ich finde, es gibt nichts Schlimmeres, als einen Krimi zu sehen und die ganze Zeit zu wissen, wer der Mörder ist."
„Das passt zu Marek.Lass uns doch reingehen, es ist ja mittlerweile echt spät geworden. Ich habe-." Sie brach abrupt ab. Eine schnelle Bewegung zwischen den Bäumen hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Sie starrte angestrengt in den Schatten und fokussierte ihr Gehör in diese Richtung.
Da sah sie es. Ein bleiches Gesicht starrte ihr entgegen, fast gespenstisch weiß hob es sich von den ringsherum liegenden Schatten ab. Die dunkle Kleidung der Gestalt verschmolz fast vollständig mit der Dunkelheit, sodass sich ihre gespannte, leicht vornübergebeugte Haltung nur erahnen ließ.
„Lia? Lia!" Wild wedelte Nathan mit seiner Hand vor Lias Gesicht herum.
„Sei ruhig, ich glaube, da ist etwas", entgegnete sie angespannt und wandte sich für einen kurzen Augenblick ihrem Freund zu, ehe sie ihren Blick wieder auf den Wald richtete.
„Etwas?"
„Ich weiß nicht genau..." Ihre Augen huschten durch die Schatten, doch die Gestalt war verschwunden, ebenso lautlos, wie sie aufgetaucht war.
„Was siehst du denn da? Es ist doch komplett finster?" Nathan leuchtete mit seiner Handykamera in den Wald, aber das schwache Licht erreichte gerade so die ersten Bäume.
„Da war etwas. Oder besser jemand."
„Wenn wirklich gerade jemand im Wald umherirrt, sollten wir ihn rufen", stellte Nathan fest. „Nicht, dass er sich verlaufen hat."
Ein Rascheln ertönte rechts von ihnen und Lia fuhr herum. „Was...?" Vom Fremden fehlte noch immer jede Spur. „Ich glaube nicht, dass er sich verirrt hat", murmelte sie leise, während sich ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Körper ausbreitete. „Lass uns lieber reingehen."
„Eine gute Idee", stimmte Nathan zu, doch sein Versuch, unbekümmert zu wirken, misslang.
Wenn sich Lia eines sicher war, dann dass es sich bei der Gestalt um den gleichen Fremden handelte, wie in der Vollmondnacht. Falls sie Trefles Worten Glauben schenken wollte, handelte es sich dabei tatsächlich um einen Vampir und Lia war nicht sehr erpicht auf eine baldige Begegnung mit ihm.
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Im Schatten der Nacht
ÜbernatürlichesDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...