„Ach komm schon, Lia", bettelte Sera. „Ich kann da doch nicht alleine aufkreuzen."
Sera hüpfte vor Aufregung fast auf und ab und warf Lia im Laufen immer wieder flehende Blicke zu. Lia unterdrückte ein Grinsen. Wann immer sich ihre Freundin etwas in den Kopf gesetzt hatte, bettelte sie so lange herum, bis sie es schaffte, Lia zu überzeugen.
„Ich wollte aber den Abend mit Nathan verbringen. Wir wollten ins Kino gehen."
„Ach", schnaubte Sera, „ins Kino kannst du doch wann anders gehen. Juana feiert aber nur morgen Geburtstag."
Lia schob ihr Fahrrad im großen Bogen um einen überquellenden Mülleimer herum. „Du kennst sie doch gar nicht. Du willst doch nur dahin, weil Jonah-..."
Sie hielt inne. „Hast du das auch gehört?"
Ein dunkles Grollen drang an ihr Ohr. Rasch blickte sie nach oben und suchte den Himmel nach Wolken ab. „Hoffentlich fängt es nicht gleich an zu regnen", murmelte sie.
„Was meinst du, der Himmel ist doch sonnenklar", entgegnete Sera, die ihrem Blick gefolgt war.
„Hast du das nicht gehört?"
Sera blickte sie fragend an.
„Es klang wie ein Donnergrollen, ganz-...ach, ist ja auch egal", unterbrach sie sich.
Ihre Freundin nahm das zum Anlass, erneut ihre Pläne für das Wochenende vor Lia auszubreiten. Bevor das Mädchen antworten konnte, vernahm sie wieder das Grollen. Sie lauschte. Nein, kein Grollen. Vielmehr... ein Knurren.
„Hörst du mir überhaupt noch zu?", fragte Sera gekränkt.
Lia beschloss, die seltsamen Geräusche zu ignorieren und schenkte ihrer Begleiterin wieder ihre ganze Aufmerksamkeit. „Natürlich. Du willst zu Juanas Party, in der Hoffnung, dass Jonah auch kommt", resümierte Lia.
„Dann kommst du mit?" Seras Augen glänzten hoffnungsvoll.
Lia verzog das Gesicht. „Ehrlich, Sera, ich habe Nathan versprochen, dass wir gemeinsam in den Film gehen. Außerdem habe ich keine große Lust, auf der Party seiner Exfreundin aufzukreuzen." Sie sah ihre Freundin entschuldigend an. „Du schaffst das auch so."
Die Enttäuschung war ihr deutlich anzusehen, als sie die Straße zu ihr nach Hause abbog und sich halbherzig verabschiedete. „Dann wünsche ich dir ein schönes Wochenende. Wir sehen uns am Montag."
„Ach Sera, warte doch, vielleicht können wir ja trotzdem was zusammen machen", rief Lia ihr hinterher, aber das andere Mädchen war schon die Straße abgebogen.
Lia seufzte, stieg auf ihr Fahrrad und bog auf den schmalen Waldweg ab, der zu ihr nach Hause führte. Sera war nicht sehr nachtragend und würde sich bald wieder einkriegen, doch trotzdem war es schade um das gemeinsame Wochenende. Die Blätter raschelten unter den Rädern ihres Fahrrads und ab und zu knackten kleine Zweige, verborgen unter einer dichten Laubdecke. Nach einer scharfen Einbiegung kam ihr Haus in Sicht, groß und eindrucksvoll lag das prachtvolle Grundstück auf einer leichten Anhöhe.
Als sie vor drei Jahren hierher gezogen waren, hatte das Haus noch einem alten Försterehepaar gehört, das die Instandhaltung des Hauses dankbar in andere Hände übergeben hatte. Lia stieg ab, schob ihr Rad den schmalen Kiesweg bis zum Schuppen entlang und verstaute es dort. Als sie anschließend die Haustür aufschloss, war sie überrascht, Töpfe Klappern und den Duft von gerösteten Zwiebeln wahrzunahmen. Begleitet vom erwartungsvollen Knurren ihres Magens ging sie in die Küche.
Ihre Mutter am Herd drehte sich grüßend um, in der Hand einen hölzernen Kochlöffel. „Hallo, Lia, das Essen ist gleich fertig, du könntest schon mal den Tisch decken. Es gibt Lachsnudeln."
„Wie kommt es, dass du schon da bist?", fragte Lia überrascht. Sie war es gewohnt, sich mittags alleine um ihr Essen zu kümmern und empfand die fertige Mahlzeit daher als willkommene Abwechslung.
„Heute wäre eigentlich Gesamtkonferenz gewesen, aber Herr Schulte und einige andere haben sich krank gemeldet, sodass sie verschoben werden musste. Da dachte ich mir, koche ich doch schon mal was für heute Abend mit, wo es doch bei Papa etwas länger dauern wird. Du hast doch gehört, was passiert ist, oder?"
„Nein, was war denn los?"
„Ach, irgendwelche Idioten sind in den Tierpark eingebrochen und haben alle Käfige geöffnet. Die meisten Tiere sind noch unversehrt an ihrem Platz, weil sie die große Gesamtumzäunung nicht überwinden konnten, aber die Wildschweine haben wohl ein ganz schönes Chaos angerichtet.
So, kannst du die Zwillinge holen? Das Essen ist fertig."
Nachdenklich stieg Lia die Treppe zu den Kinderzimmern hinauf. In letzter Zeit hatte es häufiger Einbrüche gegeben, meistens waren die Täter in Supermärkte oder Postfilialen eingebrochen, um etwas Geld zu erbeuten, aber wer brach denn bitteschön in einen Tierpark ein, um dann freiwillig die Türen zu allen Gehegen aufzubrechen? Der Park, der nur wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt lag, beschränkte sich auf europäische Wildtiere, sodass es glücklicherweise weder Tiger noch Eisbären gab, die hätten entkommen sein können, aber auch mit Luchsen und Wölfen war ohne Trenngitter nicht zu spaßen.
Lautes Geschrei wies ihr den Weg zum Badezimmer. Sie öffnete langsam die Tür und wurde Augenzeuge davon, wie sich ihre Geschwister mit viel Wasser und Zahnpasta gegenseitig eine Stehfrisur verpassten.
Erschrocken fuhren sie zusammen, als sie ihre Schwester in der Tür bemerkten.
„Wir wollten nur kurz Händewaschen", verkündete Luis und seine Schwester Maika stimmte ihm eifrig nickend zu.
„Das passt ja, es gibt nämlich Essen", bestätigte Lia. „Dann könnt ihr eure Frisuren vorführen."
Doch die beiden waren bereits an ihr vorbei die Treppe hinuntergeflitzt.
Sie ließ den Blick durch das durchnässte Badezimmer gleiten, als eine Gestalt im Garten plötzlich ihre Aufmerksamkeit zum Fenster lenkte. Hastig trat sie ans Fensterbrett, doch der große, von hohen Bäumen umringte Garten war völlig ausgestorben. Achselzuckend wandte sie sich wieder um und folgte ihren Geschwistern die Treppe hinunter.
DU LIEST GERADE
Im Schatten der Nacht
ParanormalDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...