Draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit, als Lia hörte, wie ihr Vater nach Hause kam. Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett und schrieb mit Nathan über ihre Verabredung, doch obwohl sie ein Stockwerk und zwei geschlossenen Türen vom Wohnzimmer trennten, konnte sie deutlich die Worte ihres Vaters vernehmen.
„Wir haben bereits eine Warnmeldung herausgegeben. Brownie war noch da, aber von den anderen gab es keine Spur. Ich hoffe einfach, dass in den Nachrichten keine zu große Hysterie daraus gemacht wird. Die Wölfe sind eigentlich alle recht harmlos, auch wenn sie keine Scheu zeigen." Interessiert legte Lia ihr Handy beiseite. Ihr Vater war im Tierpark einer der wenigen Mitarbeiter, die sich um die Wölfe kümmern durften und falls diese Tiere tatsächlich verschwunden sein sollten, stand dem Tierpark einiges an Sucharbeit bevor.
Kurz entschlossen sprang sie auf und lief die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
„...werden sehen, ob sich bei Tageslicht vielleicht weitere Hinweise finden-... oh, hallo, Lia", begrüßte ihr Vater sie. „Na, hast du auch schon von den neuesten Entwicklungen gehört?"
„In Teilen", antwortete Lia.
Zufrieden, die Geschichte ausführlich auszubreiten, lehnte sich Frederick zurück und begann: „Ich wollte heute ganz normal meinen Kontrollgang durch den Park machen, aber was seh' ich da? Die Tür zum Wildschweinegehege steht offen. Ich dachte erst, vielleicht hat sie ja jemand versehentlich aufgelassen, vor allem, wo doch die meisten Schweine noch im Gehege waren, aber dann ist mir aufgefallen, dass alle Türen geöffnet waren. Ich ging also zu Franz und erzähl ihm von den Türen und-..."
„Jemand ist eingebrochen. Ja, soweit bin ich auch schon informiert", unterbrach ihn Lia lachend, denn Frederick erzählte gerne in aller Ausführlichkeit und bisweilen etwas langatmig.
„Gut, ich beeile mich", gab ihr Vater nach und hob die Hände. „Auf jeden Fall ist es den Wölfen gelungen, durch ein Loch im Zaun zu entkommen. Brownie, der gute Junge ist dageblieben, aber von den anderen Vieren fehlt jede Spur."
„Meinst du, sie könnten jemanden verletzen?", fragte ihre Mutter zögerlich.
„Das glaube ich nicht, ich mache mir eher Sorgen, dass sie vor ein Auto laufen und verenden", erwiderte Frederick.
„Ich sage Sera trotzdem Bescheid, sie wohnt ja auch in der Nähe des Parks", murmelte Lia und wandte sich nach oben zum Gehen.
„Schaden kann's nicht", stimmte ihr Vater zu. Während Lia zurück in ihr Zimmer ging, erinnerte sie sich plötzlich an das seltsame Knurren, das sie am Nachmittag gehört hatte. War das einer der Wölfe gewesen? Doch sogleich verwarf sie den Gedanken wieder. Dank der Wölfe im Tierpark wusste sie nur zu gut, wie ein Wolfsknurren klang, doch das Geräusch war tiefer, bedrohlicher gewesen, fast so, wie sie sich das Grollen eines Tigers vorstellte.
Unruhig wälzte sich Lia in ihrem Bett herum. Der helle Vollmond tauchte ihr Zimmer in ein gespenstisches weißes Licht, das undeutliche Schatten an die Wand warf. Seufzend stand sie auf, um den Vorhang vor ihrem Fenster noch ein Stück weiter zuzuziehen. Ihr Blick fiel ihn den hell erleuchteten Garten und blieb an der Schaukel unterm Walnussbaum hängen. Ihr war, als lehnte dort eine hochaufgeschossene Gestalt, halb unter den herabhängenden Zweigen verborgen. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen. Nun glaubte sie fast, das Gesicht des Mannes zu erkennen, unnatürlich bleich, die dunklen Augen fest auf das Haus gerichtet. Je länger sie nach draußen starrte, desto mehr Details fielen ihr auf, von den schwarzen, zerrissenen Kleidern bis hin zu den altmodischen Stiefeln, die der Mann trug. Sein Gesicht lag weiterhin im Schatten, vergeblich starrte Lia auf den bleichen Schemen, in der Hoffnung, mehr zu erkennen, als die Gestalt auf einmal den Kopf hob und ihren Blick aus kalten, ausdruckslosen Augen erwiderte. Das Mädchen erstarrte, unfähig, den Blick abzuwenden. Langsam, beinahe unmerklich hob der Mann die Hand zum Gruß. Kurz blitzte die weiße Haut im kühlen Mondlicht auf, bevor er sie wieder sinken ließ. Dann wandte er sich um, seine Konturen verschwammen mit der Dunkelheit und im nächsten Moment war er verschwunden.
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Im Schatten der Nacht
ParanormalDie sechzehnjährige Lia hat von Werwölfen ungefähr so viel Ahnung wie von Autos. Doch das ändert sich schnell, als sie sich eines Vollmondnachts in eben einen solchen verwandelt. Schon bald wird sie vom nächsten Rudel aufgenommen und taucht in das g...