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 Lia wurde von der aufgehenden Sonne geweckt. Hell schimmerte das Licht durch ihre geschlossenen Lieder, doch die Herbstsonne war zu schwach, um sie mit ihren Strahlen zu wärmen. Langsam öffnete sie die Augen und hob vorsichtig den pochenden Kopf. Ihr ganzer Körper schmerzte, als hätte sie einen anstrengenden Dauerlauf hinter sich. Sie befand sich am Rand einer großen Wiese, die einseitig an ein schmales Waldstück angrenzte, welches unmittelbar hinter ihr begann. In ihrem Rücken drückte schmerzhaft eine Wurzel und erst als Lia ihre Position änderte, wurde ihr bewusst, dass sie zuvor zusammengerollt am Boden gelegen hatte. Nach und nach holten sie die Erlebnisse der vorangegangenen Nacht wieder ein, schattenhafte Eindrücke von riesigen Wölfen und schnell zurückgelegten Strecken geisterten ihr durch den Kopf. Lia hob zögerlich ihre Hand und wagte kaum, den Blick darauf zu richten. Ihre Finger waren schlammverkrustet und fühlten sich steif und verspannt an, sahen aber ansonsten aus wie immer.

Lia ließ ihren Arm wieder sinken. Was hatte sie erwartet? Doch nicht etwa, dass sie statt ihrer Hand eine klauenbesetzte Pfote besaß? Und obwohl der Gedanke ihr so absurd vorkam, dass sie über sich selbst den Kopf schüttelte, ließ er sie nicht so einfach wieder los.

Doch, genau das habe ich erwartet. Aber wieso?

Obwohl sie offensichtlich geschlafen hatte, war sie von einer solch bleiernen Müdigkeit befallen, dass sie ebenso gut die ganze Nacht über hätte wach sein können. Die entscheidende Frage ließ sie trotz allem nicht los: Was war letzte Nacht passiert? Lia konnte sich nur noch dunkel an die vorherige Nacht erinnern, als hätte sich ein dunkler Schleier über ihre Erinnerungen gelegt. Das sprach umso mehr dafür, dass das alles nur ein schrecklicher Albtraum gewesen war.

Für einen Moment tröstete sie der Gedanke, dann wurde ihr erschöpfter Geist sich wieder der Umgebung bewusst. Sie lag eindeutig nicht in ihrem warmen Bett, sondern auf einer kalten Wiese hatte noch immer nicht den Hauch einer Ahnung, wo sie war. Wenn das alles nur ein Traum gewesen war, wie kam sie dann hierher? Die Kälte des Bodens drang durch sie hindurch und ließ sie erzittern. Sie rollte sich enger zusammen, noch nicht in der Lage, aufzustehen, als ihre Finger etwas weiches berührten. Erschrocken fuhr Lia zusammen und war auf einmal ganz einer unangenehmen Kälte ausgesetzt.

Neben ihr lag eine dunkelbraune Wolldecke, die anscheinend bis zu dem Zeitpunkt ihren Körper gewärmt hatte. Sie zog die weiche Decke hastig wieder über ihren Körper, denn zu ihrem Erschrecken war sie ansonsten komplett nackt. Wohin war ihr Nachthemd verschwunden? Lia spürte, wie langsam Panik in ihr aufstieg. Sie lag auf einer nassen Wiese, hatte keine Ahnung, wie sie dort hingekommen war und zu allem Überfluss war auch noch ihre Kleidung verschwunden.

Hektisch schaute sie sich um und versuchte, einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu finden. Die Wiese lag in einer von Bäumen umrundeten Senke und obwohl weit und breit niemand zu sehen war, konnte Lia das Rauschen einer Schnellstraße ganz in der Nähe wahrnehmen. Sie konzentrierte sich auf das Geräusch, entschlossen, in diese Richtung loszugehen. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie sich einzubilden, einzelne Autos voneinander unterscheiden zu können. Einer der Wagen schien näher zu kommen, sein Motor wurde zu einem leisen Brummen und verstummte dann.

Lia öffnete ihre Augen wieder und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Ein unbekannter Mann näherte sich ihr rasch mit langen Schritten. Lia schätzte ihn auf Anfang Fünfzig. Er war groß und hager gebaut, ungewöhnlich schmal für seine Größe. Sein dunkelbraunes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen, ebenso wie sein sorgfältig gestutzter Dreitagebart. Um seinen Mund und seine Augen hatte die Zeit tiefe Furchen hinterlassen, die seinem Gesicht eine getragene, fast traurige Miene verliehen. Als er an sie heran trat, konnte sie seinen ernsten Gesichtsausdruck erkennen, der von den dunklen mitleidsvollen Augen getragen wurde. Obwohl Lia nicht den Eindruck hatte, dass er gefährlich sei, wich sie hastig zurück und wickelte ihren Körper enger in die Decke ein.

Im Schatten der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt