Der Kuss

1.5K 97 21
                                    

Meine Hände zitterten und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er von meinem Körper separiert. Ich suchte nach Halt, doch so sehr ich mich auch ans Gras klammerte, es würde mir niemals genug geben können. Die Stille fühlte sich unerträglich an. Je länger sie anhielt, umso erdrückender schien sie. Aber ich konnte nichts sagen. Ich hatte schon genug gesagt...

"Verzeih mir bitte...", unterbrach Kiyan die Stille und die Zeit begann wieder schneller zu vergehen.

Was hatte er da gerade gesagt gehabt? Hatte ich mich verhört? Bevor ich wieder einen klaren Kopf fassen konnte, spürte ich, wie sich zwei Arme um mich legten und ich an seinen Körper gedrückt wurde.

"Ich habe tatsächlich nie darüber nachgedacht. Bisher war das nie nötig, doch das ist keine Entschuldigung für das, was du wegen meiner Selbstsucht erleiden musstest...", flüsterte er betroffen.

Ich spürte, wie er seine Hand an meinen Kopf legte und mich an sich drückte, während er behutsam durch mein Haar strich. Überwältigt von seiner Reaktion war ich nicht fähig irgendetwas zu antworten. Mein Verstand konnte einfach nicht realisieren, was hier gerade vor sich ging. Ich spürte wie sich meine Hände in sein Hemd krallten und ich mein Gesicht an seiner Brust verbarg, doch hatte nie die Anweisungen dazu gegeben.

"Weine ruhig... Ich fühle mich geehrt, dass du mir deine Tränen schenkst. Auch wenn ich den Gedanken, dass ich der Grund für sie bin kaum ertrage..."

Ich fühlte mich so geborgen, wie ich es lange nicht mehr getan hatte. Ohne, dass ich eine Erklärung dafür hatte, spürte ich, dass seine Nähe genau das war, was ich gerade brauchte.

Ich kann nicht sagen wie lange ich in Kiyans Armen verharrte und wie lange wir dort knieten. Er ließ mich erst lange, nachdem ich aufgehört hatte zu weinen, los und wir sahen uns eine Ewigkeit einfach nur still an.

"Lass uns von hier weggehen, ja?", schlug er nach einer Weile vor und ich nickte willenlos. Er setzte sich in Bewegung und ich folgte ihm. Er war nicht wütend gewesen über das was ich gesagt hatte. Er hatte es geschafft mir genau das zu geben, was ich gebraucht hatte. Es schien so, als hätte ich ihn falsch eingeschätzt gehabt...

Nach einer Weile fand ich mich in Kiyans Gemach wieder, was mich zugegeben ziemlich verwunderte. Was taten wir hier? Suchend blickte ich mich nach ihm um, bevor ich inne hielt. Er stand direkt hinter mir...

"Ich verspreche dir, dass ich von jetzt an mehr Rücksicht auf dich nehmen werde. Also bitte gib mir noch eine Chance", bat er mich leise.

Obwohl er dieses mal überhaupt nicht bedrohlich wirkte, fühlte ich mich ihm wieder schutzlos ausgeliefert.

"In Ordnung...", flüsterte ich leise.

Nach seiner Güte, würde ich ihm sicher nicht vor den Kopf stoßen.

"Kann ich dir irgendwas gutes tun?", fragte er dann.

"Ihr habt wirklich schon mehr als genug für mich getan", winkte ich höflich ab und wich seinem Blick aus.

Ich ertrug es nicht, dass er mich so gut behandelte, obwohl ich so respektlos und unverschämt gewesen war.

"Ich bestehe darauf... Denn irgendwie fühlt sich die Atmosphäre zwischen uns gerade äußerst unangenehm an"

Er hatte recht. Wir waren uns eben viel näher gekommen, doch irgendwie fühlte sich diese Nähe fremd an.

"Wäre es zu viel verlangt, wenn ich mir wünsche, dass Ihr noch einmal zaubert?", fragte ich vorsichtig.

Auch ich empfand die Situation als unangenehm und wusste nicht mit ihr umzugehen. "Das muss dich ja wirklich beeindruckt haben."

Er begann düster zu lächeln und sah sich um. Einen kurzen Moment später verdunkelte sich der Raum. Kleine Lichtfunken brachen die Dunkelheit und schwirrten wirr umeinander herum. Kurz darauf formten sie sich zu Schmetterlingen aus Licht, deren Flügel in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Fasziniert folgten meine Augen den kleinen Wesen, die vermehrt begannen um mich herum im Kreis zu fliegen. Mein Körper fühlte sich leicht an und mir war als schwebte ich in der Schwerelosigkeit. Mein Blick glitt langsam durch den Raum, doch Kiyan war nirgendwo zu sehen. Als ich meine Hand nach einem der Schmetterlinge ausstreckte, spürte ich Kiyan, der scheinbar direkt vor mir war. Doch wieso konnte ich ihn nicht sehen? Eine Zeit lang weilte meine Hand auf ihm, bis er mich schließlich zu sich zog. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut, doch sehen konnte ich ihn noch immer nicht. Seine kalte Hand legte sich auf meine Wange, strich mit dem Daumen sanft über meinen Wangenknochen. Schließlich vernahm ich seine Lippen auf meinen, spürte wie sie begannen sich zu bewegen. Meine Sinne waren benebelt und mich überlief ein wohliger Schauer. Meine Lider schlossen sich und meine Lippen begannen sich seinen Bewegungen anzupassen.

Nach einiger Zeit löste sich Kiyan von mir, doch sein Gesicht blieb direkt vor meinem. Als ich die Augen öffnete, hatte er wieder Gestalt angenommen. Seine Augen schienen zu glühen. Hatten wir uns gerade tatsächlich geküsst? Vorsichtig legte ich meinen Zeigefinger auf meine kribbelnden Lippen. Tatsächlich... Ein merkwürdiges Gefühl der Aufregung überkam mich und ich wusste nicht, ob ich es als positiv oder negativ empfand.

Die Schmetterlinge schienen nun noch heller zu leuchten. Sie strahlten in einem feurigen Orange und flatterten aufgeregt um uns herum.

"Ich wollte von Anfang an nur, dass du mich magst", hauchte Kiyan leise in mein Ohr. "Doch habe dir keinen Grund dazu gegeben."

Ich schluckte nervös.

"Ich mag diese Version von dir...", antwortete ich leise.

Diese elegante und zauberhafte Seite an ihm, die mich jedes mal in ihren Bann zog vor Faszination. Diese Seite hatte ich immer gemocht. Doch ich hatte ihn oft genug anders erlebt gehabt. Wann war er er selbst und wann spielte er mir etwas vor?

"Das ist gut...", flüsterte er.

"Diese Seite kann ich nämlich auch viel besser leiden."

Im nächsten Moment küsste er mich wieder, doch dieses mal viel intensiver. Er war so einnehmend, ich konnte in diesem Moment nicht anders, als mich ihm voll und ganz hinzugeben.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich alleine in seinem großen Bett. Auf seinem Kopfkissen lag ein kleiner Zettel:

Guten Morgen! Es gab leider einen dringenden Notfall und ich musste zu einer Besprechung. Du musst wohl oder übel alleine Frühstücken, bitte entschuldige. Aber ich habe für heute Nachmittag eine Überraschung für dich vorbereitet. Bis später<3

Dieses mal war es kein Traum gewesen. Das alles war wirklich passiert und ich war ihm völlig verfallen. Nachdenklich starrte ich die Palme an, während mein Kopf Sekunde für Sekunde des gestrigen Abends Revue passieren ließ. Ich hatte es ohne jeden Zweifel genossen gehabt. Nun war da diese eine Frage, die wie ein Mantra durch meine Gedanken kreiste:

Was genau fühlte ich für Kiyan?

The Magician (boyXboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt