Der Anfang

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Samu hatte mir genau eine Woche Zeit gegeben, um um Kiyan zu trauern. Vielleicht hatte er auch nur sich selbst eine Woche Zeit gegeben... 

In dieser Zeit hatte ich Kiyans Leichnam in den Rosengarten geschleppt. Ich trug seinen leblosen Körper über zwanzig Minuten den Weg entlang, bis ich endlich einen freien Platz entdeckte. So viele Frauen lagen hier begraben... Es kam mir falsch vor Kiyan einfach neben irgendeiner Fremden zu vergraben, die keinerlei Bedeutung für das hatte, was Kiyan getan hatte. Und so folgte ich dem Weg weiter, immer weiter, bis ich erschöpft an einem Torbogen in der Mauer des Schlosses ankam, wo der Weg endete. Ohne lange zu überlegen, legte ich Kiyans Körper behutsam neben mir ab und griff nach der Schaufel, die ich mitgenommen hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich ein Loch ausgehoben hatte, das groß und tief genug war. Vorsichtig hob ich Kiyans Leiche ins Grab und musterte ihn eindringlich. Selbst im Tod war er das wunderschönste Geschöpf, das ich jemals erblickt hatte. Noch immer schimmerte seine blasse Haut wie Porzellan und auch seine Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Nur seine Augen... Seine tiefen, grünen Augen starrten leblos vor sich hin. Zärtlich streichelte ich ihm über die Wange. Seine Haut war so eiskalt wie sie es immer gewesen war. "Du hast Recht... Was du getan hast, war unverzeihlich...", flüsterte ich und merkte, wie ich schon wieder zu weinen begann. "Aber so sehr ich es auch will... Ich kann dich einfach nicht dafür hassen..." Langsam näherte ich mich ihm und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Ich würde nie wieder seine tiefe, angenehme Stimme hören. Nie wieder seinen Duft riechen. Ich würde von nun an wieder alleine schlafen müssen. Es fiel mir unendlich schwer das Grab zuzuschaufeln. Jede Schaufel Erde, die ich auf ihn warf, war schwer wie Blei und ich fühlte mich, als würde ich ihn verraten. Als fast alle Erde wieder an ihrem Platz war, pflanzte ich den Strauch lilaner Novalis Rosen in die Erde und betrachtete sie genau. Sie passten wirklich perfekt zu ihm. Sie waren wunderschön und besonders, doch sie hatten auch etwas mysteriöses und geheimnisvolles an sich. Seufzend hielt ich meine Hände darüber und schloss meine Augen. 'Du musst dir in deinem Kopf ausmalen, was du zaubern möchtest. Wenn du ein genaues Bild vor deinem inneren Auge hast, musst du deine Vorstellung auf deine Hand projizieren', wiederholte ich Kiyans Erklärung zur Magie in meinem Kopf. Ich stellte mir vor, wie der Strauch von einer dünnen Hülle ummantelt wurde und ihn somit vor jeglichen äußeren Einflüssen schützte. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln und als ich meine Augen wieder öffnete thronte eine Glaskuppel über der Rose. Das war zwar nicht ganz das, was ich gewollt hatte, doch fürs erste erfüllte es seinen Zweck.

Eine Woche. Eine Woche, die ich damit verbrachte vor Kiyans Rose zu sitzen oder mich in meinem Gemach zu verkriechen. Am ersten Morgen der zweiten Woche klopfte Samu dann an meiner Tür. Ohne, dass ich ihn herein gebeten hätte, öffnete er meine Tür und entriss mir die Bettdecke. "Ich sage es ganz ohne Umschweife. Ich werde dich nicht mit Samthandschuhen anfassen und auch nicht höflich zu dir sein. Für mich bleibst du der Mann, der Kiyans Leben auf dem Gewissen hat. Allerdings werde ich auch nicht zulassen, dass dir jemals jemand etwas antut. Ich werde dir helfen, wo ich kann und aus dir einen guten König machen. Deine Fehler werde ich ausbaden, deine Gesetze werde ich verteidigen. Du wirst keinen loyaleren Diener finden als mich", sagte er grob, ehe er inne hielt und sich vor mir verbeugte. "Und nun steh auf. Es ist an der Zeit dein Volk zu sehen und zu berichten, was vorgefallen ist..." Etwas überrumpelt weiteten sich meine Augen. "Heute?", fragte ich und schluckte, als er nickte. "Wünschst du, dass ich deine Rede schreibe oder schaffst du das selbst?", erkundigte er sich, wobei seine Stimme kühl klang. "Ich mache das selbst...", antwortete ich und er nickte zufrieden. Genauso plötzlich wie er gekommen war, verschwand er wieder aus dem Zimmer.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, führte mich Ranya zum Büro des Königs und öffnete mir die Türen. "Ich hoffe Ihr findet Euch zurecht", sagte sie und lächelte leicht, ehe sie mich alleine ließ. Vor mir thronte der rote Ohrensessel, mit dem schwarzen Schreibtisch aus Ebenholz davor. Für einen kurzen Moment hielt ich inne und dachte daran zurück, wie ich Kiyan hier das erste mal gesehen hatte. Ein wehmütiges Lächeln huschte über meine Lippen, bevor ich mich in Bewegung setzte und auf dem riesigen Sessel niederließ. Wie sollte ich meinem Volk die ganze Situation erklären? Ich wollte nicht, dass sie schlecht über Kiyan dachten... Ich würde ihn nicht schlecht reden. Er war ein Held. Zumindest hatte er einer sein wollen.

The Magician (boyXboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt