Das Ende der Freiheit

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Ich wuchs schnell zu einem stürmischen Hengstfohlen heran. Die anderen Fohlen waren in meinem Alter und ich spielte jeden Tag mit ihnen. Besonders gut verstand ich mich mit einem braunen Hengstfohlen mit dem Namen Cortado. Er war mein bester Freund in der Herde.

Ich liebte es, Zeit mit meiner Mutter zu verbringen und von ihr zu lernen. Dazu hatte ich eine tiefe Verbindung zu Tara. Wir verstanden uns ohne Worte und manchmal hatte ich das Gefühl, sie wusste, was in mir vorging. Mama hatte mir erzählt, dass Tara die Sprache der Pferde verstand. Nur sehr wenige Menschen beherrschten diese Fähigkeit. Obwohl Tara ein Mensch war, wurde sie von uns allen akzeptiert.

Ich genoss das Leben in der Freiheit sehr. Cortado und ich machten oft Wettrennen zur naheliegenden Quelle, die von Tara "Ora" genannt wurde. Es war eine wunderschöne Wasserfläche, wo wir auch gelegentlich schwimmen gingen.

Mama erzählte mir manchmal, dass jedes Pferd einen menschlichen Seelenverwandten hatte, jemand der anders ist als die anderen und der uns ohne Worte verstand. In ihrem Fall war es Tara. Sie hatten eine innige Bindung zueinander, die niemand zerstören konnte. Da auch ich mich mit Tara verbunden fühlte, fragte ich mich, ob sie auch meine Seelenverwandte war. Diese Frage stellte ich Mama eines Tages, als wir allein bei der Quelle waren.

"Nein, Ostwind. Du magst dich zu Tara hingezogen fühlen, aber bei einem Seelenverwandten hat man ein anderes Gefühl, das ich dir nicht erklären kann."
Mit dieser Antwort gab ich mich zufrieden.

Die Zeit verging und ich war nun ein Jahr alt. Es war ein ganz normaler Morgen. Die Herde graste friedlich in einem kleinen Tal. Tara war noch nicht da, vermutlich schlief sie noch in ihrem Haus.

Gerade wollte ich Cortado zu einem Wettrennen auffordern, als in der Ferne ein fremdes Geräusch erklang. Meine Mutter hob den Kopf und spitzte die Ohren. Auch die anderen Pferde horchten auf. Das Geräusch wurde lauter. Es klang dröhnend und schmerzte in meinen Ohren. Auf einmal wieherte Mama laut "Wir müssen hier weg! Folgt mir!" Damit galoppierte sie auch schon los und die anderen Pferde hinter ihr her. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber ich rannte hinter den anderen her und versuchte, zu meiner Mutter zu gelangen. Ich lag ein Stück hinter den anderen Pferden zurück.

Auf einmal ertönte ein lauter Schuss. Die Pferde erschraken und beschleunigten ihr Tempo. Auch ich zuckte zusammen, doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, traf mich etwas Spitzes am Hinterteil.
Ich quietschte laut und sah einen Pfeil in meiner Kruppe stecken. Plötzlich wurde ich schwächer, fiel in Trab, bis ich schließlich stehen blieb. Ich wollte weiter, ich wollte zu meiner Familie. Aber ich war zu schwach.

Hinter mir kam ein großer LKW zum Stehen, ein stämmiger Mann stieg aus und kam auf mich zu. Er machte mir Angst, doch ich konnte nicht fliehen. Er holte ein Lasso hervor und schlang es mir um den Hals. Ich konnte mich nicht wehren. Er ergriff das andere Ende des Stricks und setzte sich in Bewegung. Ich hob noch einmal den Kopf und sah meine Herde davongaloppieren. Niemandem fiel auf, dass ich nicht mehr bei ihnen war.

Ich wollte ihnen hinterher wiehern, doch das Einzige, was ich von mir brachte, war ein schwaches Schnauben. Nun zog der Mann mich hinter sich her zum Ende des LKWs. Auf einmal fuhr er eine metallische Klappe nach unten und er führte mich in den Transporter. Dort band er mich an, ging wieder hinaus und schloss krachend die Klappe hinter mir. Ich zuckte zusammen und stand jetzt allein in der Dunkelheit. Nun erzitterte der Boden unter mir und der LKW setzte sich schwankend in Bewegung.

Ostwinds Sicht - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt