Seelenverwandte

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Den restlichen Tag verbrachte ich damit, herumzutoben, mich zu wälzen und zu grasen. Ich genoss das Gefühl, endlich wieder in der Natur zu sein und den weiten Himmel zu sehen.

Am nächsten Tag wachte ich später auf als sonst. Es war eine Nacht, in der ich endlich mal wieder durchschlafen konnte. Glücklich wachte ich im weichen Gras auf und kam auf die Beine. Nach dem Frühstück tobte ich vergnügt im Bach herum, um mein nasses Fell dann wieder in der Sonne trocknen zu lassen. So ausgelassen war ich schon lange nicht mehr.

Schließlich hörte ich auf dem Feldweg hinter dem Wohnwagen schnelle Schritte. Das musste Mika sein! Aufgeregt trabte ich ans Gatter. Und wirklich! Sie kam mit einem Rucksack auf dem Rücken zu mir und umarmte mich zur Begrüßung. "Na du? Du siehst ja schon viel besser aus" meinte sie lächelnd. Dann stellte sie ihren Rucksack ins Gras und legte sich auf den Boden, um in den Sommerhimmel zu blicken.

Ich roch Leckerlis in dem Rucksack und schob neugierig meine Nase hinein. Die waren richtig lecker! Ich fraß immer weiter, bis ich merkte, dass Mika mich beobachtete. Schnell hob ich den Kopf, doch dabei blieb der Rucksack an mir hängen und meine Freundin musste lachen. "Das hast du jetzt davon!" schmunzelte sie und zog mir den Rucksack von meinen Ohren.

Vergnügt scharrte ich mit den Hufen und wieherte sie an. Ich wollte spielen! Lachend lief Mika los und ich folgte ihr wie ein Schatten. Wir rannten einen großen Bogen über die Wiese und ich blieb ihr dicht auf den Fersen. Auch als sie sich drehte und Haken schlug, ließ ich mich nicht austricksen. Wild rasten wir über die Koppel. Ich hatte nicht gewusst, wie viel Spaß man mit einem Menschen haben konnte. So musste Mama sich mit Tara fühlen, dieses enge Band, was die beiden verknüpfte.

Obwohl ich sie erst seit ein paar Tagen kannte, konnte ich mir ein Leben ohne Mika schon gar nicht mehr vorstellen. Bei ihr war ich wie ausgewechselt und sie verstand mich. Die Frage von neulich kam mir wieder in den Sinn.

Doch da blieb Mika stehen und drehte sich keuchend zu mir um. Amüsiert kam ich zu ihr. "Ist aber auch unfair, vier Beine gegen zwei" japste sie und ich schnaubte ausgelassen. Für einen Moment standen wir still voreinander, dann schlossen wir gleichzeitig die Augen und ich spürte Mikas Stirn auf meiner. Es war dieselbe Geste wie bei Mama und Tara und ich verstand: Mika und ich waren Seelenverwandte.

Ein warmes Gefühl erfüllte mich. Nachdem ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, stand ich nun mit Mika, meiner Seelenverwandten, die sich so liebevoll um mich gekümmert hatte, da. Bei uns stimmte die Chemie, wir waren ein Team. Da spürte ich, dass Mika etwas bedrückte und sie sagte "Ich lass mir schon was einfallen."

Jetzt löste sie sich von mir und ging zurück zum Gatter. Ich begleitete sie. Aber als wir am Zaun ankamen, roch ich einen fremden Geruch und ich sah mich wachsam um. "Was denn? Ich muss los, sonst krieg ich Ärger." meinte Mika. "Den hast du schon" antwortete auf einmal jemand über uns und ich erkannte Sam, der auf der Eiche saß.

"Was machst du denn da?" rief Mika erschrocken. "Ich soll auf dich aufpassen und was machst du da?!?" fragte Sam zurück. "Was denn?" erkundigte sich Mika.
Nun deutete Sam auf mich "Das ist das gefährlichste Pferd, das ich kenne und du spielst mit ihm Fangen, als wäre es dein Hund.". Empört wollte ich ihm drohend zuwiehern, doch Mika kam mir zuvor. "Er ist nicht gefährlich" erwiderte sie und kletterte ebenfalls auf den Baum.

Da mir langweilig wurde, begann ich zu grasen, hörte aber mit einem Ohr zu. Mika versuchte Sam zu erklären was mit mir los war, doch das war gar nicht so einfach, denn der Stallbursche war der Meinung, ich sei eine Gefahr für alle.

Auf einmal meinte Mika "Sie darf ihn nicht diesem Ungarn geben! Wir müssen mit ihr reden!". Anscheinend meinte sie damit Frau Kaltenbach. "Sie würde uns nicht einmal zuhören. Ostwind hat deine Großmutter schwer verletzt. Sie kann nicht mehr reiten seitdem." sagte Sam.

Wie bitte? Maria Kaltenbach war Mikas Großmutter? Die beiden waren so ziemlich das komplette Gegenteil voneinander. Mika war sanft und einfühlsam, Maria hingegen streng und gnadenlos. Und zum letzten Mal, ich hatte keine Schuld an dem Unfall! Warum verstanden das die Menschen nicht?

Eine Weile herrschte Stille. Dann meinte Mika "Er könnte an diesem Turnier teilnehmen." Verdutzt hob ich den Kopf. Ich auf einem Turnier? Wie stellte sie sich das vor? Auch Sam sah sie ungläubig an "An den Kaltenbach Classics? Und wer sollte ihn da reiten?"
Nun sah Mika ihn vielsagend an und er musste lachen "Du?!"
"Und warum nicht?" fragte meine Freundin trotzig. Die beiden diskutierten weiterhin und einigten sich schließlich auf etwas, das erkannte ich an Mikas zufriedenem Gesichtsausdruck. Dann kletterten beide den Baum hinunter und rannten zum Wohnwagen hinüber. Ich blickte ihnen fragend nach. Was ging hier vor sich?

Nach ein paar Minuten kam Mika vergnügt zu mir gerannt und ich galoppierte ihr erfreut entgegen "Hey, ich hab so richtig gute Nachrichten!" rief sie als ich bei ihr ankam. "Herr Kaan bringt mir das Reiten bei!" Herr Kaan? War das etwa der komische Opa, der mich eingefangen hatte? "Wir trainieren ab Morgen für dieses Turnier und zeigen denen dann, dass du viel mehr bist als ein unbrauchbarer Hengst!" meinte sie und ich spitzte interessiert die Ohren. Das klang nach einer Herausforderung und diese klang wirklich interessant!

"Das heißt, morgen ist es mit dem Spielen vorbei. Wir müssen alles geben, okay?". Ich schnaubte gehorsam. Dann schnappte sich Mika ihren Rucksack, verabschiedete sich von mir und lief zurück zum Gestüt. Ich sah meiner Seelenverwandten mulmig hinterher. Ob das wirklich eine so gute Idee war?

Ostwinds Sicht - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt