Den restlichen Tag ließ sich Mika nicht mehr im Stall blicken und ich verbrachte die Zeit mit Dösen und von meiner Familie zu träumen.
Es war Nacht geworden. Die anderen Pferde schliefen schon. Ich wollte gerade ebenfalls schlafen gehen, als ich Schritte in der Stallgasse hörte. Mika tauchte vor meiner Box auf und grinste mich an. Sie hatte ihr Versprechen gehalten! Erfreut wieherte ich ihr zur Begrüßung zu. "Schhh, leise, sonst hören die uns noch!" flüsterte Mika und sofort wurde ich still. Sie öffnete die Tür und nun sah ich, dass sie eine ganze Schubkarre mit Putzzeug gefüllt hatte.
Sie stellte mir zu meiner Freude einen Futtereimer hin und ich vergrub sofort schmatzend meinen Kopf darin. Ich war schon wieder komplett ausgehungert. Während ich fraß, mistete Mika die Box aus, bürstete den Dreck aus meinem Fell und zog mir Stroh aus meinem Schweif. Das Ganze dauerte ziemlich lange und als sie fertig war, war es schon Morgen.
Erschöpft, aber zufrieden lehnte sich meine Freundin gegen die Wand und musterte mich. "Gar nicht übel" meinte sie schließlich. "Danke Mika" schnaubte ich und neigte meinen Kopf zu ihr. Sie rubbelte zärtlich meine Nase.
Dann fiel mein Blick auf die Boxentür und mein Herz wurde schwer. Ich sehnte mich so sehr danach, endlich wieder zu galoppieren! Als hätte Mika meine Gedanken gelesen fragte sie "Du willst raus, hm?". "Ja, ich will mich endlich wieder austoben..." erwiderte ich.
Zu meiner Überraschung ging sie an mir vorbei und öffnete die Tür. "Okay, aber nur kurz. Auf einen Spaziergang" meinte sie. Fassungslos vor Freude trat ich vorsichtig auf die Stallgasse und verließ langsam meine Box. Wie lange war ich gefangen gewesen! Mika folgte mir auf die Stallgasse. Ich machte zögernd einen Schritt nach dem anderen und konnte mein Glück kaum fassen.
Auf einmal ertönte ein lauter Knall. Peng! Erschrocken zuckte ich zusammen, dann galoppierte ich wie ein Teufel los. An Mika dachte ich nicht mehr, alles in mir schrie nach Flucht. Panisch stürmte ich aus dem Stall, rannte über den Hof, vorbei an den verblüfften Gesichtern der Menschen und aus dem Tor. Niemand konnte mich aufhalten und ich beschleunigte mein Tempo. Ich wollte nur weg von diesem Gefängnis! Das Letzte, was ich hörte, war das Klirren einer Tasse, die zu Boden fiel.
Es war ein befreiendes Gefühl, nach so langer Zeit wieder zu galoppieren. Ich schlug übermütig mit dem Kopf, als ich realisierte: Ich war frei!
Ich raste einen Schotterweg entlang, so schnell, wie ich noch nie gelaufen bin. Plötzlich, wie aus dem Nichts, flog ein Lasso auf mich zu und traf meinen Hals. "Nein!" wieherte ich erschrocken und drehte mich um, um zu sehen, wer mich an der Flucht hindern wollte. Hinter mir stand ein alter Mann mit sonnengegerbter Haut. Er zerrte mich hinter sich her. Nein! Diesmal nicht! Ich war nicht betäubt, ich konnte mich wehren! Ich stemmte die Hufe in den Boden und stieg auf die Hinterbeine.
Den ganzen Morgen versuchte der Mann, mich auf eine Koppel hinter einem Wohnwagen zu bringen, was ihm schließlich auch gelang. Schnell schloss er das Gatter hinter mir und trat wieder auf mich zu. Aber ich hatte genug. Man hatte mir zum dritten Mal die Freiheit genommen! Dazu konnte ich die Angst des Mannes spüren und das wiederum bereitete mir Panik. Ich bäumte mich wieder auf und diesmal konnte er nicht ausweichen. Mein Huf traf seinen rechten Oberarm und er wich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
"Das hast du jetzt davon!" zischte ich, drehte mich um und galoppierte ans andere Ende der Koppel, weg von diesem komischen Kauz. Der Strick baumelte noch immer um meinen Hals, doch das war mir egal. Die Koppel war riesig. Eine gewaltige Eiche stand in der Mitte und die Wiese wurde von einem Bach durchzogen. In sicherer Entfernung blieb ich stehen und schlug ein paar Mal mit dem Kopf.
Auf einmal spürte ich eine vertraute Energie vom Gatter aus. Ich hob den Kopf und sah ... Mika! Sie stand neben einem Baum und unterhielt sich mit dem Opa. Ich konnte nichts verstehen, da ich zu weit weg war. Schließlich kletterte meine Freundin über den Zaun. Der Alte wollte sie aufhalten, doch sie ließ sich nicht beirren und kam auf mich zu. Mit gespitzten Ohren sah ich ihr entgegen. Sie hielt mir ihre ausgestreckte Hand hin und ich setzte mich nun ebenfalls in Bewegung. Langsam, Schritt für Schritt kamen wir einander näher, bis wir direkt voreinander standen. Sanft stupste ich mit meiner Nase gegen ihre Finger und sie lächelte. Da war etwas, das mich zu ihr hinzog, ein Gefühl, das ich nicht erklären konnte. "Du kannst doch nicht einfach so abhauen." murmelte sie, doch es klang nicht wütend, sondern liebevoll. "Tut mir leid, aber ich hab mich erschreckt" entschuldigte ich mich bei ihr.
Auf einmal rief der Opa Mika etwas zu und sie rannte erschrocken zum Gatter. "Nein! Bitte nicht! Die sperren ihn ein, das hält er nicht aus und dann bringen sie ihn zum Ungarn!". Der Alte sah sie ungläubig an, dann gingen die beiden zusammen davon.
Ich wusste nicht, wer oder was der Ungar war, dachte aber nicht weiter darüber nach. Stattdessen steckte ich meinen Kopf ins Gras und rupfte die Halme aus. Hmm, das schmeckte richtig gut!
Nach einer Weile kam Mika zurück und sie hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht. "Ostwind!" rief sie mich. Überrascht sah ich auf. Woher kannte sie meinen Namen? Gespannt trabte ich auf sie zu. "Hör zu, du bleibst fürs erste hier, okay? Morgen komme ich wieder." Na gut. Es war zwar nicht die Freiheit, die ich mir wünschte, aber diese Koppel war mir hundertmal lieber, als die enge Gitterbox auf dem Gestüt.
Als Zeichen meiner Einverständnis stupste ich sie an, sie strich mir über die Mähne und nahm mir behutsam das Lasso von meinem Hals. Dann warf sie mir eine Kusshand zu und rannte davon. Ich blickte ihr nach, bis sie verschwunden war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, das ich einem Menschen etwas bedeutete.
Dieser Tag hatte eine wunderbare Wendung. Ich war nicht mehr eingesperrt, sondern durfte hier auf der Koppel bleiben, konnte galoppieren und mich austoben, so viel ich wollte und morgen würde meine Freundin mich wieder besuchen. Ich konnte es kaum noch abwarten!
DU LIEST GERADE
Ostwinds Sicht - Band 1
FanfictionIn dieser Geschichte geht es um Ostwinds Leben vor dem Buch und alles aus seiner Sicht. Viel Spaß beim Lesen :)