Die Begegnung

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Als ich wieder erwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich war. Ich hob den Kopf und sah die Gitterstäbe an der Boxentür. Und dann fiel mir alles wieder ein. Vor ein paar Stunden hatte man mich auf das Gestüt gebracht und der Stallbursche hatte mich hier eingesperrt.

Ich erhob mich und suchte einen Ausweg, aber überall waren diese Wände, die mich gefangen hielten. Ich tobte wieder einmal und schrie, doch nichts half.

Tage vergingen, an denen ich nur dastand und traurig an mein altes Leben dachte. An das Leben in der Freiheit, mit Mama, Cortado und den anderen Pferden. Und mit ... Tara. 3 Jahre waren vergangen, seit ich meine Familie das letzte Mal gesehen hatte.

Ich erfuhr, dass Frau Kaltenbach sich die Hüfte gebrochen hatte. Einmal war sie in den Stall gekommen, auf einem Stock gestützt und sah mich mit Abschaum in den Augen an. "Du hast mir das angetan, du Mistvieh." presste sie hervor. Ich? Es war allein ihre Schuld! Wäre sie nicht an dem Tag in meine Box gekommen und hätte sie nicht versucht, mich an der Flucht zu hindern, wäre das alles gar nicht passiert.

Die alte Dame verbot jedem, sich meiner Box zu nähern, geschweige denn, diese zu öffnen. Sam hatte eine Eimervorrichtung zum Füttern angebracht, damit er nicht in meinen Verschlag kommen musste. Von dem Tag an wurde ich nur noch vernachlässigt. Man mistete meine Box nicht aus, ich stand im Dreck und zu fressen bekam ich auch nicht genug.

Die anderen Pferde brachte man täglich hinaus auf die Koppel, nur ich musste hier im Stall bleiben. Das machte mich immer so wütend, dass ich in meinem Gefängnis immer wieder ausrastete. Meine Angewohnheit, auch in der Nacht zu toben, hatte ich nicht abgelegt.

Aus Tagen wurden Wochen und daraus Monate, in denen ich nur in meinem Verschlag gefangen war. Ich vermisste meine Herde schrecklich und dachte die ganze Zeit an die glücklichen Stunden in der Freiheit zurück. Wem hatte ich mein jetziges Leben zu verdanken? Pedro. Wegen ihm musste ich jetzt in dieser Gitterbox vor mich hin vegetieren. Mein Freiheitsdrang wurde nicht kleiner, im Gegenteil. Je länger ich hier drin eingesperrt war, desto größer wurde meine Wut auf die Menschen, die mir das angetan hatten. Und Wut verleihte mir die Kraft, die ich brauchte, um hier auszubrechen. Ich war mir ganz sicher, dass ich es eines Tages schaffen würde.

Es war wieder so eine Nacht, wo ich herum tobte, wieherte und um mich schlug. Der Lärm im Stall machte den anderen Pferden nichts aus, sie schliefen tief und fest. "Lasst mich endlich hier raus!" schrie ich immer wieder und trat mit meinen Hufen so fest gegen die Wände, wie ich nur konnte.

Auf einmal hörte ich Schritte, die sich dem Stall näherten und spitzte die Ohren. Noch nie hatte jemand bei meinen Wutausbrüchen nach mir gesehen. Langsam erschien ein Mädchen vor meiner Box. Sie hatte feuerrote Haare und grüne Augen, die im Dunkeln förmlich leuchteten. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Eine seltsame Energie ging von ihr aus, eine Energie, die mich beruhigte. Ich stand nun still da und sah sie neugierig an. "Na, kannst du auch nicht schlafen?" fragte sie dann. Ihre Stimme klang sanft. Als Antwort schüttelte ich meinen Hals. Sie wollte mir scheinbar einen Apfel geben, doch er passte nicht durch die Gitterstäbe. Kurzerhand öffnete sie die Tür und trat in die Box.

Bei jedem anderen Menschen wäre ich jetzt ausgeflippt, aber bei ihr blieb ich ruhig. Sie war anders als die anderen, das spürte ich. Vorsichtig wich ich ein paar Schritte zurück. Das Mädchen schien keine Angst vor mir zu haben. Sie setzte sich einfach auf die Strohballen am Rande der Box und hielt mir den Apfel hin.

Mein Gefühl sagte mir, dass sie mir nichts tun würde. Dazu knurrte mein Magen gewaltig. Langsam, Schritt für Schritt ging ich auf sie zu, nahm ihr den Apfel aus der Hand und kaute genüsslich. "Auch Pech mit dem Essen gehabt?" fragte sie amüsiert. "Kann man wohl sagen" erwiderte ich und stupste sie mit der Nase an. Sie roch gut nach Seife und Mensch.

Nun legte sie sich zu meiner Überraschung auf die Ballen und schlief ein. Neugierig beschnupperte ich sie noch weiter. Irgendetwas war anders an diesem Mädchen. Da war noch immer diese vertraute Energie, die von ihr ausging. Auf jeden Fall beschloss ich, bis morgen früh auf sie aufzupassen. Das würde heute die erste ruhige Nacht seit langem in diesem Stall werden.

Ostwinds Sicht - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt