Verloren

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Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, in der ich mit Mika und Schmerzen im Bauch auf dem Boden lag, unfähig aufzustehen. Waren 3 Stunden vergangen? Oder doch schon 5? Ich hatte keine Ahnung. Mika blieb die ganze Zeit bei mir, lag einfach neben mir. Ihr ging es auch nicht gut, das sah man deutlich an ihrer blassen Haut und den glühenden Augen.

Irgendwann hörte ich hastige Schritte, die sich dem Zelt näherten. Die Plane wurde zur Seite geschlagen, dann hörte ich jemanden schockiert nach Luft schnappen. Ich öffnete die Augen und sah eine Frau mit dunklen Haaren, die an mir vorbei zu Mika ging. Hinter ihr erschien Dr. Anders, der sich sofort zu mir kniete und mich untersuchte. Nun erblickte ich auch Fanny am Eingang. Anscheinend hatte sie Hilfe geholt und vor Erleichterung stieß ich ein Schnauben aus.

Die Frau zog Mika in ihre Arme und sagte einige Worte zu ihr. "Mama, er will nicht mehr aufstehen. Du musst ihm helfen." flüsterte meine Freundin schwach. "Er hat eine Kolik. Ich geb ihm eine Spritze" meinte der Tierarzt und Mikas Mutter streichelte ihre Tochter beruhigend. "Wir kümmern uns um ihn" versicherte sie. Dann schob sie ihre Arme unter Mika, hob sie hoch und trug sie zum Eingang. Nein! Wir brauchten einander, sie durften uns nicht trennen!

"Mika!" wieherte ich ihr verzweifelt nach und versuchte, mich aufzurichten. "Nein, ich muss bei ihm bleiben. Ostwind." murmelte meine Freundin erschöpft, aber sie war zu schwach, um sich zu wehren. Auch ich brach wieder zusammen. Mikas Mutter trug meine Seelenverwandte rasch aus dem Zelt und schon waren sie verschwunden.

Ich bemerkte nicht, wie der Tierarzt mir eine Spritze gab, hörte nicht die Stimmen der Kinder im Zelt. In meinem Kopf rumorten nur drei Worte "Mika ist weg. Mika ist weg." Man hatte uns getrennt. Vielleicht für immer.

Nach ungefähr einer Stunde waren die Schmerzen vorbei und ich schaffte es auf die Beine. Herr Anders zog mir ein Halfter über, nahm den Sattel und die Trense und führte mich hinaus zu einem Pferdetransporter. Ich ließ es einfach geschehen, weil ich wusste, dass ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo meine Freundin jetzt war. Sobald ich zurück beim Gestüt war, würde mich mein neuer Besitzer - der Ungar - sofort mitnehmen. Dann würde ich Mika nie wiedersehen.

So war es auch. Als wir am Nachmittag auf Gut Kaltenbach ankamen, lud mich der Tierarzt aus. Neben uns stand ein schwarzer Pferdeanhänger. Ein furchteinflößender Mann stieg aus und der Tierarzt übergab mich ihm ohne etwas zu sagen. Der Ungar führte mich zu seinem Transporter. Da fiel mein Blick auf Maria Kaltenbach, die uns mit bekümmertem Gesicht zusah. "Es tut mir so leid." schnaubte ich traurig. Ihre Augen trafen meine und sie nickte kurz. Ich hatte verstanden. Sie hatte mir verziehen. Dann war der Moment vorbei und ich wurde nach vorne gezwungen.

Mein neuer Besitzer verlud mich, dann ging er hinaus und schloss krachend die Rampe hinter mir. Ich zuckte zusammen. Es war stockdüster und es müffelte hier drin. Nun startete der Motor und der Transporter setzte sich in Bewegung.

Ich stand mit gesenktem Kopf da. Wir waren schon gute 10 Minuten unterwegs. Warum hatte ich so viel Pech in meinem Leben? Nach so langer Zeit hatte ich endlich meine Seelenverwandte gefunden und jetzt wurden wir voneinander getrennt. Wie sollte ich ohne Mika leben?
Auf einmal hörte ich Mamas sanfte Stimme in meinem Kopf "Gib niemals auf. Kämpfe für das, was du erreichen willst."

Entschlossen riss ich den Kopf hoch. Genau das werde ich auch tun! Damals hatte ich es nicht geschafft auszubrechen, aber jetzt ging es um meine Seelenverwandte. Sie gab mir Kraft.

Ich fixierte meine ganze Energie an einen Punkt und schlug mit den Hinterbeinen aus. Wild warf ich mich im Anhänger gegen die Wände, trat immer wieder gegen die Laderampe. Ich gab nicht auf. Noch einmal, noch einmal und noch einmal! Ich musste zu Mika!
Meine ganze Wut und Kraft vibrierten in meinem Körper und ich keilte so fest aus, dass es knallte. Und ein weiteres Mal.

Da! Die Laderampe riss auf und schlug scheppernd auf den Boden. Keine Sekunde später sprang ich aus dem Transporter. Ich sah die erschrockenen Blicke der Autofahrer hinter mir, doch das interessierte mich nicht. Ich galoppierte los, so schnell wie ich noch nie gerannt war, zum schützenden Wald. Das Letzte was ich hörte war, wie der Transporter das Gleichgewicht verlor und mit Getöse zur Seite kippte. Dann verschwand ich auch schon zwischen den Bäumen.

Ich raste wie der Teufel durch den Wald. Schneller, ich musste zu Mika! Ich sprang über Baumstämme, stürmte durch Bäche hindurch und jagte durch das Unterholz.

Nach einiger Zeit spürte ich die vertraute Energie und wieherte, so laut ich konnte. Vor mir erblickte ich Herrn Kaans Koppel und ich beschleunigte überglücklich mein Tempo. Nun konnte mich nichts mehr halten!

Ostwinds Sicht - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt