Am nächsten Morgen wurde ich durch einen Geruch wach und kam auf die Beine. Es war Mika! Sofort trabte ich zum Gatter, doch sie kam nicht zu mir. Sie wartete anscheinend auf Herrn Kaan.
Wie sich herausstellte, musste Mika erst drei Dinge beherrschen, bevor sie auf meinen Rücken konnte. Balance, Rhythmus und Koordination. Für mich ging es also noch gar nicht los. Die nächsten Tage stand ich nur da und sah meiner Freundin amüsiert zu, wie sie mit ihrem Lehrer zu komischer Musik tanzte.
Als meine Seelenverwandte alles gemeistert hatte, kam sie nach einer Woche endlich zu mir auf die Koppel. Wir sollten unser Vertrauen zueinander stärken. So gingen wir erstmal nur nebeneinander her, sie war das Leittier und ich folgte jeder ihrer Bewegungen. Es war unglaublich, wie sehr ich dieses Mädchen bereits respektierte.
Wir passten unsere Bewegungen einander an, es war, als tanzten wir zu einem Lied, das nur Mika und ich hören konnten. Nach einigen Tagen war unser Vertrauen zueinander so groß, dass Herr Kaan Mika erlaubte, auf meinen Rücken zu steigen.
An einem sonnigen Nachmittag gingen wir drei zu einem See und Mika führte mich ins Wasser. Herr Kaan blieb am Ufer und sah uns aufmerksam zu. Ich spürte Mikas Zögern, doch ihr Meister machte ihr Mut. Sie führte mich immer weiter, bis ich nicht mehr stehen konnte und zu schwimmen begann. Nun stemmte sich meine Freundin an mir hoch, schwang ein Bein hinüber und schon saß sie auf meinem Rücken.
Von selbst drehte ich um und paddelte zurück zum Ufer. Mit jedem Schritt, den ich aus dem Wasser machte, wuchs mein Glücksgefühl und auch Mika grinste breit. Klitschnass blieb ich vor Herrn Kaan stehen, der uns zufrieden musterte. Langsam streckte er die Hand aus, ich blieb ruhig stehen und ließ es zu, dass er mich streichelte. So lange Mika bei mir war, konnte mir nichts passieren. Der alte Mann sah mich erfreut an, dann blickte er zu Mika, die ihn anstrahlte "Ja, jetzt können wir anfangen." meinte er.
Den restlichen Weg zur Koppel zurück blieb Mika auf meinem Rücken und ich war stolz darauf, meine Seelenverwandte zu tragen. An der Wiese angekommen drückte sie mir einen Kuss auf die Nüstern, dann ging sie mit Herrn Kaan davon und ich wendete mich wieder dem Gras zu.
Von nun an trainierten Mika und ich täglich auf der Weide. Meine Freundin lernte schnell und wir wurden immer besser. Sie hielt sich mittlerweile auch in Höchstgeschwindigkeit auf meinem Rücken und traute sich immer mehr zu. Auf meinem blanken Rücken zu stehen war irgendwann auch kein Problem mehr und es fühlte sich bald so an, als hätten Mika und ich niemals etwas anderes gemacht, als zu reiten.
An einem Morgen kam sie wieder zu mir und schwang sich auf meinen Rücken. Wir trabten zu Herrn Kaan, der seelenruhig vor sich hin schnitzte "Guten Morgen, Meister. Was haben Sie heute für uns?" fragte meine Reiterin scherzend. Herr Kaan erwiderte, er habe heute Ruhetag und als Mika sich erkundigte, was wir dann machen sollten, grinste er. "Das, was ihr am besten könnt" meinte er. "Und was?" murmelte Mika. "Fliegen!" rief der alte Mann und gab mir einen Klaps auf die Hinterhand.
Verstehend stieg ich mit einem wilden Wiehern auf die Hinterbeine und dann galoppierte ich querfeldein über die Wiese davon. An weiten Feldern vorbei, zwischen Bäumen hindurch und auf einen langen Feldweg. Ich fühlte mich so großartig wie schon lange nicht mehr, so unbeschwert und ... frei. Meiner Seelenverwandten ging es scheinbar genauso, sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und genoss genau wie ich dieses unvergleichbare Gefühl der Freiheit. Der Wind ließ meine Mähne flattern, ich dachte wirklich, ich könnte gleich abheben.
Nun kam ein Gatter in unser Blickfeld. Ich spürte Mikas Entschlossenheit und beschleunigte verstehend das Tempo. Wir galoppierten über die Straße, bemerkten nicht einmal Sam, der uns auf dem Traktor beobachtete. Dann hob ich ab und wir flogen durch die Luft. Einen Moment dachte ich, schwerelos zu sein. Weich wie eine Feder landete ich und jagte einfach weiter. Kurz sah ich zurück und erblickte Sam, der uns fassungslos hinterherblickte.
"... Nicht einmal Paul Schokemühle hätte das hingekriegt!" hörten wir Sams begeisterte Stimme, als wir nach dem ausgelassenen Ritt zurück zum Wohnwagen kamen. Dort saß auch Herr Kaan. "Wer ist denn Paul Schockemühle?" fragte meine Freundin amüsiert und Sam drehte sich erschrocken um. Vorsichtig streckte er die Hand aus und ich schnupperte neugierig an seinen Fingern. "Wahnsinn. Hallo, Ostwind" begrüßte er mich. "Sprechen hat er aber noch nicht gelernt" erwiderte Mika lachend.
Der Stallbursche war völlig aus dem Häuschen und meinte, dass wir es allen zeigen würden. Nun rutschte meine Seelenverwandte von meinem Rücken. Sie sah auf einmal unsicher aus "Ich weiß nicht. Vielleicht ist das mit dem Turnier doch eine Nummer zu groß. Die ganzen Leute ... was, wenn wir..."
Der Junge sah sie ungläubig an "Aber dafür habt ihr das doch gemacht. Und dafür hab ich Frau Kaltenbach die ganze Zeit ins Gesicht gelogen. Um ihn zu retten, oder nicht?" Dabei deutete er auf mich. Mika sagte etwas hilflos, das wir noch nicht so weit wären und mehr Zeit bräuchten. "Ja, du vielleicht. Aber er hat keine mehr." erwiderte Sam kalt, dann ging er davon.
Gedankenverloren brachte Mika mich auf die Wiese. Ich spürte ihre Ratlosigkeit und stupste sie aufmunternd an. Traute sie uns dieses Turnier etwa nicht zu? Betrübt strich sie mir über die Stirn "Hast ja recht. Ich will dich ja retten. Aber was, wenn ...?" sie ließ den Satz unbeendet. "Ich muss jetzt erst mal über alles nachdenken" meinte sie schließlich. Dann verabschiedete sie sich von mir und ging Richtung Gestüt davon.
Ratlos sah ich ihr nach. Wir hatten doch unser Ziel erreicht. Sie hatte Reiten gelernt und heute hatten wir unser aller erstes Hindernis überwunden. Wir waren bereit für das Turnier. Und jetzt wollte sie einen Rückzieher machen? Diese Gedanken verfolgten mich noch bis tief in die Nacht hinein, bis ich schließlich wegdämmerte.
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Ostwinds Sicht - Band 1
FanfictionIn dieser Geschichte geht es um Ostwinds Leben vor dem Buch und alles aus seiner Sicht. Viel Spaß beim Lesen :)