Kapitel 1

244 33 58
                                    

"Nat? Nat! Natasha!", zischt mir eine Stimme, die verdächtig nach meiner besten Freundin Mira klingt, ins Ohr. "Was?", fauche ich genervt zurück, immer noch im Halbschlaf und meinen Kopf auf meine Arme gebettet. Kann man denn nicht mal in Ruhe ein Nickerchen halten?

"In der Schule wird nicht geschlafen!"

Oh. Das erklärt einiges. Langsam habe ich den Kopf und das erste, was ich erblicke, ist unser Chemielehrer.

"Da uns Miss Warrington auch mal die Ehre erweist, mit offenen Augen am Unterricht teilzunehmen, kann sie doch gleich mal nach vorne kommen und die folgende Aufgabe lösen!"

Mr. Brown - von Mira auch Brownie genannt, weil er - Zitat - ja so zum anbeißen ist - sieht mich auffordernd an und hält mir die Kreide entgegen. Seufzend stehe ich auf und mache mich auf den Weg zur Tafel. Kaum bin ich vorne angekommen, drückt mir Brownie die Kreide in die Hand und greift sich den Aufgabenzettel. Ich drehe mich schon mal zur Tafel und mache mich schreibbereit. Vielleicht habe ich ja Glück, und es kommt so was wie: 'Wasser wird in seine zwei Bestandteile zerlegt. Wie lauten diese?' Das würde ich nämlich noch wissen.

"Okay, versuchen wir es mal mir Aufgabe drei", beginnt Mr. Brown. "Mangan reagiert mit Permanganationen in einer alkalischen Lösung; es entsteht Manganoxid. Stelle dazu die Redoxgleichung auf."

Ich lasse meine Hand mit der Kreide wieder sinken. Permangawasdinger? Und was zur Hölle ist Mangan?

"Bitte zeig dabei auch die Elektronenübergänge mithilfe der Oxidationszahlen auf."

Ach du heilige Scheiße, ich bin verloren. Die Oxidationszahlen hatte ich schon das letzte Jahr nicht verstanden und heuer erst recht nicht. Ich schaue hilfesuchend meine Klassenkameraden an, doch fast alle Mädchen (Mira eingeschlossen) schmachten Brownie an und die Jungs sehen wahrscheinlich noch ahnungsloser aus wie ich.

"Äh..", ich kratzte mich ratlos am Kopf. War da nicht was mit einer sauren Lösung gewesen? "Also in Säure sind doch H+ Ionen.." Zum Ende hin wird meine Stimme immer höher, sodass es wie eine Frage klingt, aber wenigstens nickt Mr. Brown zustimmend. Leider bin ich hier auch schon mit meinem Latein am Ende. Um Zeit zu schinden male ich ein großes H+ auf die Tafel.

"Also diese H-plusses da, die sind positiv und äh...die können dann...etwas negatives neutral oder positiv machen und.."

"Das ist mir schon klar, aber könntest du das auch im Zusammenhang mit dieser Redoxgleichung, die du - nebenbei bemerkt - immer noch aufstellen musst, erklären?" Mr. Brown schenkt mir ein Lächeln. Verliebtes Seufzen und ein 'Ist sein Lächeln nicht einfach himmlisch' aus der Richtung der anderen Mädchen.

"Ich..äh...also...", stottere ich herum. Ich bin mir sehr sicher, dass meine Gesichtsfarbe der einer Tomate gleicht. Letztendlich befreit mich die Schulglocke von meinem Elend. Ich drücke dem verdutzten Mr. Brown mit einem strahlenden Lächeln die Kreide in die Hand und flüchte regelrecht aus dem Chemiesaal. Auf dem Flur stoppe ich dann und lehne mich gegen die Wand. Ein paar Sekunden später kommt auch Mira aus dem Chemieraum, unter dem Arm meine Mappe, die ich bei meiner überstürzten Flucht zurückgelassen habe. Ich nehme sie ihr ab und schenke ihr mein schönstes Lächeln. "Du bist ein Schatz, Mira, ich liebe dich!"

* * *

Ich stöhne genervt auf. "Ich hasse dich!" Es ist gerade mal fünf Minuten später und ich habe es mir mit Mira auf einer Bank im Schulhof gemütlich gemacht.

"Aber er ist so hooot!" Meine beste Freundin fächelt sich dramatisch Luft zu. "Hast du mal seine Augen gesehen? Ich schmelze fast jedes mal, wenn er mich ansieht. Und - ohmeingott Nat - er hat sicher auch ein Sixpack, I mean seriously, stell dir den Typ doch mal oberkörperfrei vor! Ich sterbe!" Darf ich vorstellen: Mira Bolton nach so ziemlich jeder Chemiestunde.

"Hm", mache ich. Mira sieht mich fassungslos an. "Hm?! Ist das alles was du dazu zu sagen hast? Er ist ein Gott!"

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Mira, er ist - "

" - nicht dein Typ, dafür hat ist er zu männlich, hat keine Boobies und keine Pussy. Ich weiß!", unterbricht mich Mira.

"Genau so ist es, aber eigentlich wollte ich sagen: Mira, er ist schwul. Da kannst du ihn noch so lange anhimmeln, aber er ist definitiv am anderen Ufer."

Mira verschluckt sich an ihrem Kaffee. "Was?" Ich grinse nur und ziehe aus meiner Jackentasche eine kleine Schachtel heraus.

"Erstens: Wie kommst du denn bitteschön darauf? Und zweitens - " Sie zieht mir das Päckchen aus den Fingern. " - wolltest du nicht mit dem Rauchen aufhören?"

Ich schnappe mir die Packung zurück und schüttle sie. "Mach ich doch. Das hier sind nur so Zuckerstangenzeugs, schau!" Zum Beweis öffne ich die Packung und präsentiere Mira den Inhalt. "Willst du auch eine? Ich hätte rot-weiß, grün-weiß oder blau-grün gestreift im Angebot."

"Nein, ich will wissen, wie der total männliche Mr. Brown schwul sein soll!" Mira sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.

Ich entscheide mich für eine grün-blaue Zuckerstange und beginne darauf herumzukauen. "Ganz einfach: Indem er nach Schulschluss noch mit diesem jungen Vertretungslehrer, den wir mal hatten, rumknutscht." Mira fällt die Kinnlade hinunter.

"Er und Mr. Daniels?" Ich nicke. "Jep. Ich habe am Montag meine Mappe vergessen und musste noch mal zurück und tadaa!" Meine beste Freundin ist immer noch fassungslos. "Dann habe ich mir also ganz umsonst Strähnchen machen lassen? Das glaube ich jetzt ja nicht!" Empört sieht sie mich an. Ich schüttle nur lächelnd den Köpf und blicke mich auf dem Schulhof um. Mein Blick bleibt bei einem Mädchen mit langen blonden Haaren und einem sehr kurzen Markenkleid hängen. Ich stoße Mira in die Seite. "Sag mal, ist das nicht Sadie?" Sie folgt meinem Blick und nickt. "Ja, sie hat vor zwei Tagen einen WPA abgekriegt. Sie sieht vollkommen anders aus, nicht?"

Ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. "Ich will das nicht durchmachen, schau dir nur mal an wie bitchy die Arme aussieht!"

Mira zuckt mit den Schultern. "Tja Herzchen, da müssen wir alle durch." Sie steht auf und versenkt ihren Kaffeebecher mit einem gezielten Wurf in der Mülltonne. Ich ziehe beeindruckt die Augenbrauen hoch.

"Komm lass uns reingehen, die Smith ist immer so angepisst, wenn man zu spät kommt." Mira stößt mir freundschaftlich ihren Ellenbogen in die Seite. "Mach dir nicht zu viele Gedanken über deinen WPA, vielleicht bekommst du ja einen der Stufe 10."

Pff, sie hat leicht reden. Mira wurde ja auch schon als Kind von ihrem WPA für eineinhalb Tage nach Disneyland geschickt.

Für alle die nicht wissen, worüber es gerade geht, hier die Kurzfassung zum Mitschreiben:

Jeder von uns bekommt einen WPA - das ist die Abkürzung für Wattpad-Autor. Dieser tippt einen sozusagen mit seiner imaginären Schreibfeder an und 'verwandelt' einen in seinen Charakter. Wenn man Glück hat und einen Autor mit einer Skalierung von 5-10 bekommt, dann erlebt man in dieser Zeit meistens eine sehr spannende Geschichte und der eigene Charakter bleibt mehr oder weniger gleich. Bekommt man jedoch einen Autor mir einer niedrigeren Skalierung, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man zu einer Mary Sue - einen eher tussigen Charakter ohne jegliche Tiefe - wird. In dieser WPA-Zeit wird man dann vom Autor 'gesteuert' , teilweise - das variiert je nach WPA - hat man jedoch selbst die Kontrolle und kann selbst entscheiden, was man tun oder sagen will. Die komplette WPA-Zeit kann von ein paar Stunden (wenn man das Glück hat, nur ein Nebencharakter zu sein) bis zu maximal einer Woche dauern. So hat mir das jedenfalls meine Mom erklärt.

"Natasha? Kommst du, oder was ist an diesem Stückchen Flur hier so interessant?" Mira ist stehengeblieben und winkt mir aus circa drei Metern Entfernung zu. Ich löse meinen Blick von dem Boden (Grau. Normal. Keine Ahnung, warum ich dorthin gestarrt habe) und laufe zu ihr.

Auf in die nächsten Stunden Schule.

per•fectWo Geschichten leben. Entdecke jetzt