2 │ Stille

414 48 19
                                    

Louis verbrachte den Rest des Tages damit, die übrigen Kartons auszuräumen und seine Wohnung irgendwie ein wenig gemütlicher zu gestalten. Zwischendurch telefonierte er mit Lottie, die amüsiert die Situation in der Familie beschrieb. Phoebe und Daisy, das ältere Zwillingspaar, stritt sich immer noch darüber, wer jetzt Louis' Zimmer bekommen würde. Lottie gab auch zu, dass es wahrscheinlich darauf hinauslaufen würde, dass niemand der beiden das Zimmer bekommt und es einfach an Doris und Ernest gehen würde. Die ganze Zeit wollten die beiden schon ein Spielzimmer haben und jetzt hatten sie die Chance dazu. Das Telefonat hielt leider nicht lange und Louis befand sich bald schon wieder im Schlafzimmer, wo er ein paar Fotos an die Wand hing, die er von Zuhause mitgenommen hatte. Das Familienfoto stellte er auf den hölzernen Nachttischschrank. Das Foto war vor gerade mal zwei Wochen entstanden und irgendwie fühlte es sich doch wie ein Ewigkeit an. Seine Mutter hatte darauf bestanden, das Foto noch vor Louis' Umzug schießen zu lassen. Dass er so lange Zuhause geblieben war, obwohl er schon eine eigene Wohnung hätte kaufen können, sorgte jetzt dafür, dass Louis seine Familie umso mehr vermisste. Und es war nur ein einziger Tag vergangen. Er vermisste sogar den Trubel, der im Haus durchgehend geherrscht hatte.

Trotzdem hatte der Beginn eines neuen Kapitels zu verlockend gewirkt, um der Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Es war an der Zeit, dass er einen selbstständigen Weg einschlug. Seufzend krempelte Louis den rechten Ärmel seiner Pullovers nach oben und betrachtete die vielen Tattoos auf der hellen Haut. Jedes Tattoo stand für eine kleine Geschichte, die eine bedeutender als die andere. Das kleine Hufeisen hatte er sich vor kurzem stechen lassen. Es sollte ein Glücksbringer für sein neues Leben sein und ihn trotzdem auch an Zuhause erinnern, wo er oftmals den Pferdehof seines Opas besucht hatte.

Tief atmete Louis ein und aus, verdrängte die Gedanken an Zuhause und warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde, bis er sich mit Harry treffen würde. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals bei dem Gedanken. Auf der einen Seite hatte er gemerkt, dass Harry anscheinend ziemlich nett sein konnte, aber die Geschehnisse vom Morgen ließen ihn immer noch nicht los. Es war höflich auf sein Angebot einzugehen, aber die Angst knabberte immer noch an Louis' Nerven. Sei es auch nur die Sorge darum, wie er ein Gespräch führen sollte, ohne dass es unangenehm wird aufgrund der Situation von ein paar Stunden zuvor. Um viertel vor Vier kämmte sich Louis durch die Haare und betrachtete sich für einen kurzen Moment im Spiegel. Sah er zu genervt und mitgenommen aus? Seine blauen Augen waren ein Beweis dafür, dass sowohl die Nacht, als auch der Morgen Spuren hinterlassen hatten. Trotzdem konnte er nichts gegen diesen gläsernen Schimmer tun. Er hoffte einfach darauf, dass Harry nicht zu sehr auf sein Aussehen eingehen würde.

Anspannung machte sich in Louis breit nachdem er an der weißen Wohnungstür geklopft hatte. In seinem Kopf wiederholte er immer wieder, dass alles gut werden würde und er sich zu viele Sorgen machte, aber es beruhigte ihn schlussendlich doch nicht. Louis wollte schon umdrehen und wieder zurück in seine Wohnung gehen, als die Tür sich dann doch öffnete und Harry vor ihm stand. Ein nervöses Lächeln zierte sein Gesicht und er krallte sich vielleicht ein wenig zu sehr an dem Türrahmen fest. "Komm herein", sprach er dann doch höflich und machte Louis genug Platz, dass er in die Wohnung treten konnte. Es war definitiv nicht das, was er erwartet hatte. Louis nahm an, dass man nach einer gewissen Zeit der Wohnung eine persönliche Note gab, mit Bildern, sogar mit der Auswahl der Möbel. Diese Wohnung spiegelte nichts als Kälte für Louis wieder. Es war so unfassbar sauber, aber leer und kalt. Fast so als wäre Harry erst vor kurzem eingezogen.

Harry war nervös, dass er alles nur noch schlimmer machen würde. Ein Blick durch den Türspion hatte ihm schon verraten, dass Louis angespannt war und lange hatte er gezögert, die Tür überhaupt aufzumachen und dieses Risiko einzugehen, irgendetwas falsch zu machen. Als er die Tür dann doch geöffnet hatte, war Harry derjenige, der von der Nervosität überrannt wurde und sich sofort wie erschlagen füllte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie viel Angst er Louis am Morgen eingejagt haben muss. "Folge mir einfach in die Küche", lächelte der Größere der Beiden und ging voraus in die Küche, wo er schon Kaffeetassen und Teller auf dem Tisch platziert hatte. "Setz dich ruhig", ermutigte Harry seinen Gast und beobachtete, wie Louis sich zögerlich auf einen Stuhl setzte und Harry nun ansah. Eine unangenehme Stille machte sich zwischen beiden breit, lag schwer auf ihren Schultern und keiner wusste so richtig, wie sie das Gewicht ablegen sollten. Harry wand sich zuerst ab und nahm den Schokoladenkuchen von der Küchenzeile und setzte ihn auf dem Tisch ab. "Ist Kaffee okay? Und Schokoladenkuchen? Ich wusste nicht, welchen Kuchen Sie bevorzugen-" Harry wurde von Louis unterbrochen, als dieser hastig den Kopf schüttelte.

Das ungute Gefühl hatte Louis nicht losgelassen, aber er wollte sich Mühe geben, dass zu vergessen, was vorgefallen war. Harry wirkte noch angespannter als Louis sich im Endeffekt fühlte, was den Kleineren dazu veranlasste, Harry zu unterbrechen. "Ich würde 'du' bevorzugen. Kaffee ist vollkommen okay und ich liebe Schokolade sowieso", beruhigte der Blauäugige seinen Gastgeber. Die Last schien nicht von Harrys Schultern zu fallen, aber kleine Hoffnungsschimmer nahmen einen Teil des Gewichtes auf sich. Nickend füllte er die Tassen mit Kaffee und stellte sie wieder auf den Tisch, bevor er sich hinsetzte. Wieder herrschte Stille zwischen den beiden und nur das Geräusch der Gabeln, die gegen die Teller stießen, war zu hören. Harry war der Erste, der das Schweigen schlussendlich brach. "Ich mag deine Tattoos", sprach er langsam und beobachtete genau, wie Louis reagieren würde. Harry wollte einfach nur nett wirken und nicht wie ein Freak.

Louis sah überrascht von seinem Teller auf und nickte langsam. "Danke. Deine Tattoos sehen auch gut aus." Louis fühlte sich nicht unbedingt unwohl in seiner Haut, aber das Gespräch fühlte sich auch nicht natürlich an. Die unangenehme Stille schien darauf zu warten, sich wieder über sie zu legen, aber Harry wollte dies verhindern. "Hast du Haustiere? Ich habe Fische", begann Harry sofort und klammerte sich schon fast an die kleine Gabel in seiner Hand. Er fühlte sich wie ein Idiot, während er versuchte, die Konversation anzutreiben. Louis lachte kurz und schüttelte den Kopf. "Kann ich diese Fische dann später mal treffen?"

Harry wusste nicht, ob Louis sich über ihn lustig machte, ihn witzig fand oder einfach nur versuchte, höflich zu sein. Louis war wirklich fasziniert davon, wie sehr Harry versuchte, normal zu wirken und dabei eigentlich bewies, dass er genau das Gegenteil war. "Ich-", versuchte Harry es wieder und lief ein wenig rot an, bevor er die Gabel hinlegte und wieder seinem Tick nachging. Immer wenn er nervös wurde, kratzte er über die große Narbe an seinem linken Unterarm. Schon lange hatte er versucht, es sich abzugewöhnen, aber bei jeder Stresssituation verfiel er in dieses alte Muster. Louis schnitt sich noch ein Stück von dem Kuchen ab und beobachtete Harry während er sich nervös über den Arm kratzte. Er musste etwas unternehmen oder sie würden für immer in dieser Situation festsitzen. "Hör auf damit", sagte Louis zögerlich und deutete auf Harrys Arm, der jetzt schon rote Stellen von seinen Nägeln aufwies. Harry nickte langsam und platzierte seine Hände flach auf den Tisch, starrte Louis fast schon emotionslos an. Der kleinere der beiden konnte nicht anders und schüttelte lachend den Kopf. "Beruhig dich", begann Louis und deutete nun auf den Anker, der auf Harrys Handgelenk tätowiert war. "Hat er eine bestimmte Bedeutung?" Er wusste nicht, ob es Harry vielleicht zu weit ging, dass er nach der Bedeutung eines Tattoos fragte, aber das war das einzige, das Louis einfiel. Zu seiner Überraschung nickte Harry und zeigte Louis das Tattoo näher.

"Ich habe es mir in Spanien stechen lassen. Nachdem ich die Armee verlassen habe, brauchte ich Zeit um herunterzukommen und diese Zeit habe ich am Meer verbracht. Dort habe ich auch Segeln gelernt. Es war einfach wie eine Therapie", erklärte der Grünäugige und lächelte zögerlich.

Louis nickte zufrieden und begann wieder seinen Kuchen zu essen. "Der Kuchen ist echt der Hammer. Hast du den gebacken?" , fragte er nach und bekam sogar ein Lachen aus Harry heraus. "Oh nein, ich würde die ganze Wohnung anzünden, wenn ich versuchen würde zu backen."

"Endlich jemand, der mich versteht", schmunzelte Louis und schien sich auch wieder mehr zu entspannen. Vielleicht könnte er sich doch mit Harry verstehen.


________________________

Harry ist ein bisschen socially awkward. Ich hatte richtig Spaß, das Kapitel zu schreiben, obwohl 40% aus unangenehmer Still besteht. 

Feedback und Gedanken sind wie immer gerne gesehen.

Bleibt gesund!! 

Love and Tattoos | Larry [pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt