Was für eine passende Redeart.
Mittlerweile geht es glaube ich vielen so. Der Alltag, so trist und gleich er sich wiederholt, grenzt genau genommen schon am Wahnsinn. Warum?
Wann hattest du das letzte Mal ausreichend Zeit, dich dir selbst zuzuwenden? Die Ruhe, in dich zu gehen, dir mutige Fragen zu stellen und ehrliche Antworten wahrzunehmen? Wann konntest du das letzte Mal etwas machen, was deiner Seele richtig gut tut?
Ja, wann....
Wer hat denn dafür eigentlich noch die Möglichkeit? Wer hat sich nicht unmerklich aber stetig von sich selbst entfernt, weil wir uns nicht egoistisch fühlen wollen, für Andere stark sind und fleißig auf der Arbeit?!
Natürlich sind das alles wichtige Aufgaben, die erfüllt werden wollen. Das ist klar. Nur...wo bleibt der so zarte und schützenswerte Zugang zu uns selbst?
Also ich kenne nur wenige Personen, die einen gesunden Zugang zu sich selbst bewahren. Der Alltag lässt uns oft so abstumpfen, dass wir uns vor lauter Stress nicht mehr wirklich wahrnehmen(können).
So weit, so traurig.
Und dann wundert man sich, warum man scheinbar aus dem Nichts erschöpft und schlecht drauf ist oder sogar richtig deprimiert. In Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens jeder 4. an Depressionen.
Wie muss es erst sein, wenn jemand zusätzlich an einer Identitätsstörung leidet, wie Borderline eine ist.
Menschen wie Mia haben es wirklich schwer! Meine Schwester entwickelt allerdings ein immer besseres Gefühl für sich selbst. Eine schwierige Mission, aber auch enorm wichtig.
Faszinierend und auch ein bisschen erschreckend ist übrigens ihre Handschrift. Ihre handgeschriebenen Bücher und Hefte sehen aus, als hätte eine ganze Klasse daran geschrieben. Ständig wechselt der Schriftstil, je nach Tag. Wahnsinn.
Mia ist selber erstaunt darüber :)
Im Alltag hat sie es mittlerweile richtig gut geschafft, sich abzugrenzen. Endlich lässt sie sich nicht mehr alles gefallen. Sie profiliert sich langsam vom verlorenen Mädchen zur taffen Frau. Schlagfertig und mutig steht sie für sich ein. Ich bin so stolz, wenn sie mir von ihren kleinen und großen Siegen im Alltag erzählt. Das tolle ist, dass solche positiven Erfahrungen aufbauen und als kostbare Ressourcen in der Zukunft weiterhelfen.
Der absolute Beweis: Ich konnte es, das war super - Und ich kann es wieder schaffen!
Ein weiterer Schritt, um den Alltag zu meistern, ist der Umgang mit schwierigen Situationen und Konflikten. Es passieren viele kleine Dinge, bis man total aufgebracht ist. Meist unterbewusst und unbemerkt. Mia hat gelernt, auf diese negative Kette zu achten und kritische Situationen frühzeitig zu erkennen. Borderliner sind ja viel länger aufgebracht, schon biologisch gesehen. Also ist das Ziel, sich erst gar nicht so aufbringen zu lassen.
Es ist eine echte Erleichterung, wenn das funktioniert! Für alle.
Mia kommuniziert rechtzeitig, bevor eine Situation zum unaufhaltsamen Schneeball wird. Die Reaktion des Umfeldes ist dabei extrem wichtig. Als Beteiligter ist man dann oft schnell genervt und dadurch leider auch verleitet, den Borderliner zu provozieren. Ich muss mich ehrlicherweise mit einschließen. Mia ist meistens schon aggressiv, wenn sie mir klar macht, dass es “gleich wieder soweit ist“. Dann fällt es total schwer, ruhig zu werden, obwohl man selbst garade wütend ist... Aber durchatmen, die Zähne zusammenlassen und runterfahren lohnt sich sehr!!! Mia kommt nach kurzer Zeit wieder runter, weil sie eben nicht so schlimm oben war. Ihr geht es schnell wieder besser - Und mir dann natürlich auch.
In einen entspannten Gespräch darüber räumte Mia ein, dass sie mich verstehen kann, wenn ich dann auch wütend bin. Dass sie aber in solchen Momenten auf meine Hilfe angewiesen ist, das ich einlenke. Weil ich eher die Möglichkeit habe, mich zu kontrollieren. Natürlich gilt das nicht generell. Aber in solchen Situationen hilft es unglaublich weiter. Wir können schon auf viele positive Erfahrungen zurückblicken.
Es gehört zum Umgang mit dem Thema Borderline.
Ein anderes Thema ist die Dissoziation. Es kann Mia völlig unvorbereitet treffen. Eine zufällig ausgelöste Erinnerung an traumatische Erfahrungen, ein Flash-back. Mia starrte mich mitten in einem harmlosen Gespräch plötzlich an, sah durch mich durch, war nicht ansprechbar. Kurz zuvor hatte sie irgendetwas an ihr Trauma erinnert, wie ich später erfuhr. Sie wusste nicht mal genau, was eigentlich der Auslöser war. Es ist schockierend, wenn der geliebte, vertraute Mensch plötzlich von aller Welt entrückt ist. Eine erlernte Bewältigungsstrategie aus einer damals erlebten Notsituation.
Auch in dieser Situation ist man als Angehöriger gefragt. Ruhe bewahren, die dissoziierte Person wiederholt ansprechen, nur vorsichtig berühren, da sie sich sonst sehr erschrecken kann. Mia hat für verschiedene Situationen immer ein kleines “Skill-Kästchen“ in ihrer Handtasche. Für den Fall einer Dissoziation hat sie ein winziges Fläschchen mit purem Ammoniak dabei. Ich sollte mal daran riechen, um zu wissen, wie sich das anfühlt. Es ist unangenehm, aber nicht schlimm. Es ist wie Hallo-Wach-Kick im Kopf, wie eine kleine Explosion, als wenn auf einen Schlag alle Lampen angeschaltet werden. Jedenfalls ist man dann mit allen Sinnen komplett wach! Nie wieder rieche ich daran :))
Aber dieser neurologische Kick bringt dissoziierte Personen augenblicklich wieder zurück in die Realität.
Zum Glück kommt die Dissoziation bei Mia eher selten vor!
Halten wir also fest: Menschen mit Borderline können lernen, achtsam zu sein, um kritische Situationen möglichst früh zu erkennen und zu vermeiden. Sie können sich auch helfen, indem sie z.B. ein Kästchen mit passenden Skills immer dabei haben. Sie können Angehörige anleiten, wie diese in schwierigen Situationen helfen können(z.B. das kleine Ammoniak Fläschen öffnen und reichen). Und wir als Angehörige/Beteiligte können den Borderliner unterstützen, indem wir uns trotz Wut im Bauch runterfahren, wenn es notwendig wird, und generell ruhig mit schwierigen Situationen umgehen. Dabei sollten wir nie nie vergessen, ihnen regelmäßig zu zeigen, dass wir ihre Krankheit ernst nehmen - Und sie trotz allem lieben!!!!
DU LIEST GERADE
Borderline - Die Geschichte von Mia
RandomDas Leben eines tollen Menschen, nennen wir sie Mia, mit dem Borderline Syndrom. Aus der Sicht ihrer Schwester. Ein Versuch, sich etwas hineinzufinden in ein Leben zwischen schwarz und weiß...