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Siebenunddreißig Nächte nach Japan – nachdem sie das Land ohne Zeugen hinterlassen zu haben, verlassen hatten – wurde Elide Sinclair von schmerzhaften Träumen heimgesucht. Manchmal träumte sie von ihrem Bruder, der sie mit irgendwelchen Zeugs zuredete, das sie nicht verstand, manchmal sang ihre Mutter ihrer Kinderversion ein griechisches Schlaflied am hölzernen Bett ihres alten Kinderzimmers vor. Und manchmal, da träumte sie davon, wie sie mit ihrem längst verstorbenen Vater in den Wald fuhr, um Feuerholz für den Kamin zu sammeln. Ob die Träume wahren Erinnerungen entsprangen, oder doch pure Fiktion waren, konnte sie nicht sagen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, wie die Gesichter ihre Eltern aussahen; sie waren in jedem dieser qualvollen Träume verschwommen gewesen. Sie hatte ihre Gesichter schon längst vergessen. Ihre Stimmen waren nicht mehr als ein leises Flüstern. Doch war es nicht dieser Umstand, der ihre Träume so furchtbar machte. Nein, es war das Ende. Sie alle endeten auf die ein und selbe Weise: Sie schlitze ihrer Familie die Kehle auf. Oder schlimmeres.
Dann, wenn alles in scharlachrotes Blut gefärbt war, und erst dann, schrak sie jede verdammte Nacht auf – schweißgebadet.

Die Kleidung klebte ihr am Leib, obwohl die Temperaturen bei Einbruch der Nacht stark gefallen waren. Sie griff nach der Flasche mit Wasser, das fad und alt schmeckte, kippte alles bis zum letzten Tropfen hinunter. Sie würde sich am Morgen sowieso neues holen müssen, wenn die Sonne am Horizont aufging und Ägypten zu einem trostlosen, unerbittlichen heißen Drecksloch aus Sand und Staub anschwoll. Dabei war es nicht wirklich die Hitze, die sie störte; sie bat eine willkommene Erfrischung im Vergleich zu dem eisig kalten Russland. Sie beschwerte sich nur über das Wetter, weil sie so ihren Frust rauslassen konnte und wenn sie mit ihrem Genörgel zusätzlich noch Crane, den Schneemann und den ganzen Rest ihrer Einsatzgruppe – sowie die Karawane, mit der sie reisten – auf die Nerven ging, umso besser.
Elide stand auf, überzeugt davon, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde, kippte den Sand aus den Schuhen, die sie daraufhin anzog, und trat aus ihrem Zelt. Kalte Nachtluft schlug ihr entgegen. Sie schloss die Augen – ein einziger Fehler. Vor ihren Lidern blitzten Bilder auf, von den Polizisten, die sie im Hauptsitz von Yoshida Industries getötet hatte. Nicht bloß getötet – geschlachtet.
Sie sah sich im Lager um, musterte die viel zu nachlässigen Wachen, bei denen es sich um niedere Hydra Agenten handelte. Die meisten der Männer hatten der Fehler begangen, sich bei ihrem Dienst hinzusetzen und waren im Halbschlaf versunken, die Augen nur mit letzter Mühe offen haltend, der Rest versuchte sich damit wachzuhalten, indem sie kleine Steine durch den Sand kickten und hielten die Augen dabei natürlich auf den Boden gerichtet. Falls sie zuvor noch nicht den Glauben an die Menschheit verloren hatte, war es nun höchste Zeit. Nur ein einziger Mann stand aufrecht am Rande des Lagers und behielt die Gegend wachsam im Auge. Er war allerdings auch kein einfacher Agent, deshalb zählte er nicht. Sein Metallarm glänzte im silbernen Mondschein. Vermutlich hatte Sam Cranky – der Name passte viel besser Crane – ihn zur Wache verpflichtet, weil er ebenso wenig von den Hydra Agenten hielt, wie Elide. Kurz überlegt sie, ob sie zu ihm gehen sollte. Dabei schweiften ihre Gedanken wieder zurück, zu der Nacht in Japan. Er hatte die Polizisten mit derselben Leichtfertigkeit umgebracht, wie sie. Aber der Unterschied war, dass seine Opfer ganz allein auf das Konto von Hydra gingen. Es war nicht wirklich er gewesen, der ihr aller Leben beendet hatte. Sie hatten ihn gezwungen, kontrollierten ihn wie eine Marionette, die zum Töten geschaffen war, benutzten ihn als ihre persönliche Todesmaschine. Sie hingegen hielten kein Fäden. Zumindest nicht direkt. Klar, diese verfickte Organisation hatte ziemlich viel gegen sie in der Hand, drohten ihr mit einem unvorstellbaren Grauen, doch hätte sie sich geweigert, die unschuldigen Polizisten abzumurksen, wäre sie zwar gefoltert worden, dann ... nein. Fast hätte sie angenommen, dass sie lieber gefoltert worden wäre, anstatt diese Männer zu töten, aber es stimmte nicht. Bei dem Gedanken daran, wieder und wieder zertrümmert zu werden, wieder und wieder zu sterben und trotzdem weiterzuleben, nur um wieder zermatscht zu werden, sträubten sich ihre Nackenhaare und sie begann zu zittern. Und sie stellte fest, gestand sich selbst ein, dass sie jeden umbringen würde, um nicht wieder in den Raum mit den Wänden gesperrt zu werden. Vielleicht machte sie das zu einem egoistischen Miststück, aber das war ihr gleichgültig. Sie wollte gar keine Reue spüren, keine Schuldgefühle, kein Gewissen.

Black Jackal | Bucky FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt