16

1.4K 104 16
                                    

Ihr seid Futter. Eure Muskeln, die ihr anspannt, um zu gehen, zu sprechen oder etwas zu werfen? Nur Fleisch mit saftigen Sehnen. Eure Haut, über die ihr euch beschwert? Eine Delikatesse. Und eure Knochen, die euch halten? Sie brechen zwischen knackenden Zähnen, wenn geifernde Mäuler ihr Mark schlürfen.
Zumindest war die siebenjährige Elide sich sicher, dass die riesigen Wölfe, die in den Wäldern hinter ihrem Dorf schlummerten und auf ihren nächsten Leckerbissen warteten, so dachten. Das alles war keine wirklich angenehme Vorstellung, und doch blickte Elide etwas sehnsüchtig nach Abenteuer und Gefahr über die Hausdächer zu dem Wald, der wie ein riesiges Ungeheuer hinter dem kleinen Dorf wartete und nur darauf zu warten schien, über sie herzufallen. Sie sollte es nicht tun, aber irgendetwas in ihr wartete freudig darauf. Auf etwas, das endlich diese Langeweile vertrieb. Eigentlich sollte sie gerade zuhause sein und sich mit irgendwas mädchenhaften beschäftigen, wie stricken oder sonst was, das die anderen kleinen Mädchen in ihrem Alter taten, aber Elide hatte sich dafür entschieden, die Fassaden hochzuklettern und über die eng stehenden Ziegeldächer zu hüpfen. Sie hatte ihrem Vater zuvor sogar angeboten gehabt, ihm und ihren Bruder auf dem Feld zu helfen, aber er hatte sie mit der Erklärung, Feldarbeit sei nichts für kleine Mädchen, davon geschickt zu ihrer Mutter. Natürlich war sie nicht zu ihr gegangen. Nein, stattdessen hockte sie gerade auf einem fremden Dachrand und ließ die Füße baumeln. Sie fand es großartig, die Welt von oben zu sehen. Liebte es, die anderen Menschen aus ihrem Ort bei ihrer Arbeit zuzusehen und hatte dabei immer ein Auge auf den Stand mit Gebäck gerichtet. Ab und zu - wenn der Hunger sie überwältigte - stahl sie ein Stückchen Brot oder etwas von dem süßen Zeug. Manchmal gab sie auch etwas ihrem großen Bruder, der sie gegenüber ihren Eltern deckte und log, dass er sie mit Freundinnen und Puppen hatte spielen sehen. Um genau zu sehen, gab sie ihm auch nur etwas ab, damit er sie nicht verriet. Denn zuhause hatten sie nicht viel zu Essen, keine Auswahl, nichts für zwischendurch. Es gab ein gekochtes Ei und Milch zum Frühstück, Suppe zu Mittag und die Reste jener - wenn denn welche da waren - zu Abend. Und ja, auch in diesem Moment hatte sie Hunger. Mit knurrendem Magen sah sie zu dem Bäcker, der gerade an einer seiner Leckereien nagte und seine lecker duftenden, frischen Waren genau im Auge behielt. Es war zu auffällig gewesen, dass jede Woche was davon verschwand, obwohl sie darauf geachtet hatte, nur das kleinste zu stehlen. Aber wenn sie wie sonst direkt vom Stand klauen würde, würde es zu viel Aufsehen erregen. Es gab allerdings noch andere Wege ... nachdenklich saugte sie an ihrer Unterlippe und beobachtete währenddessen die Kunden, die herbeistürmten, um sich was zu kaufen. Es gab diejenigen, die kaum mehr Geld hatten als ihre eigene Familie, und vorher damit zu ringen schienen, was zu kaufen, dann jedoch der Versuchung, dem wohlriechenden Geruch, nicht widerstehen konnten und auch den netten Worten des Bäckers nachgaben. Diese Leute kauften, was sie konnten, was aber wenig war. Die anderen ... nun, niemand war in einem mickrigen Dorf wie diesem reich, aber es gab ein kleines Viertel von Leuten, in deren Geldbeuteln etwas mehr Münzen klimperten. Diese würden es wohl kaum bemerken, wenn ein Blaubeer-Muffin von vielen fehlte. Diese Art von Leuten waren einfacher zu blenden, weil sie auf mehr beschränkt waren. Sie waren offener, träumten eher, waren viel leichter zu blenden.

Sie rutschte von dem Dachen, hängte sich an die Regenrinne, hinüber zum Regenrohr, sprang leichtfüßig zur Fensterbank und kam schließlich lautlos auf dem Boden auf. Dann schlich sie durch die Straße, zog aus ihrem Ärmel Spielkarten, die sie stets bei sich trug. Ihre Augen fanden leicht ihr Opfer: eine mittelalte Frau mit einem freundlichen Gesicht und einem bestickten Beutel voller Gebäck. Stolz hielt sie ihr die Karten hin und fragte, ob sie einen Zaubertrick sehen wollte. Die Frau sah ihr mit solcher Wärme entgegen, die zweifellos die Gletscher im fernen Norden zerschmolzen hätte. "Gern", lächelte sie. Sie erwiderte das Lächeln so süß, wie sie konnte und es schien die Frau so fröhlich zu machen, dass sie befürchtete, sie würde einen entzückten Laut ausstoßen. Glücklicherweise nicht.
"Okay, wählen Sie eine", wies sie die Frau schüchtern an, streckte ihr drei Karten mit dem Bild nach unten entgegen. Der Rest des Kartenstapels wartete in ihrer anderen Hand. "Die!", sagte die Frau und zeigte auf die erwählte Karte. Elide zog die ausgestreckte Hand zurück, legte sie verkehrt herum ans untere Ende des Stapels und mischte die Karten. Dann hob sie die Hälfte ab, steckte sie nach unten, so, dass sie gerade noch genug Platz zum nutzen hatte. Sie hielt nun ihren Zeigefinger oben auf den Stapel und zog die Karte der Frau mit ihrem kleinen Finger aus dem Stapel, während sie eine dramatische Bewegung machte, um sie abzulenken. Es war ein simpler Schummel, den sie sich abgesehen hatte, aber kaum jemand kam je darauf, was tatsächlich passiert war. Die Frau klatschte begeistert, lobte sie und ging. Auch Elide ging und sie freute sich. Nicht über den Trick, sondern über den warmen, duftenden Muffin in ihrer Tasche.

Black Jackal | Bucky FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt