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Das Läuten der Schulklingel riss mich erbarmungslos aus meiner Trance. In der ich mich die letzten Minuten befunden und auf deinen Hinterkopf gestarrt hatte.

Plötzlichen hatten alle Anwesenden angefangen, hektisch an ihre Sachen zusammen zu packen, denn für die nächste Stunde mussten wir die Räume wechseln. Hierfür blieben uns, wie immer zwischen der ersten und zweiten Stunde, nur wenige Minuten. Insgeheim hatte ich natürlich gehofft, dass wir nicht nur die Klassenstunden zusammen haben würden, sondern auch einige der Fächer, welche damals in Grund- und Erweiterungskurse eingeteilt wurden.

„Jetzt komm endlich in die Gänge. Du weißt, dass die Schulze Verspätungen hasst", hatte mich Ben ermahnte. Er hatte seinen dunkelgrauen Eastpak lässig über eine Schulter hängen und wartete nur noch auf mich.

Du warst währenddessen in einem Gespräch mit Nadine vertieft gewesen. Wobei ich es mehr als einen Monolog deiner zukünftigen Freundin empfunden hatte. Nadine war klein, ging regelmäßig zum Reitsport und hatte lange, blonde Haare. Sie war ein Wirbelwind durch und durch. Ihre Energie, von der sie immer zu viel zu haben schien, machte auch vor ihrem Redefluss keinen Halt.

Dennoch mochte ich sie, denn auch sie kannte ich bereits seit dem Kindergarten, ebenso wie Ben. Das traf eigentlich auf die meisten in unserer Klasse zu. Wir lebten auf einem kleinen Dorf, welches allerdings rein rechtlich den Status einer Stadt innehatte. Darauf legten besonders die Ureinwohner viel Wert. Dennoch kannte jeder hier irgendwie jeden. Über die Jahren waren natürlich immer mal wieder Leute aus der nahegelegenen Hauptstadt rausgezogen, aber in den letzten drei Jahren war dies nicht mehr der Fall gewesen. Vermutlich, weil die meisten Eltern ihren Kindern keinen Wechsel im letzten Schuljahr zumuten wollten. Später sollte ich erfahren, dass deine Mama kürzlich das Haus deiner verstorbenen Oma geerbt hatte. Aus diesem Grund hatten sich deine Eltern gemeinsam entschlossen doch noch einmal umzuziehen. So gesehen warst du also eine echte Rarität in unserem Jahrgang.

„Julian jetzt komm endlich", hatte Ben erneut gedrängelt und dabei nervös auf die große Uhr über der Tür geschaut. Hätte er nicht seine Haare wie damals üblich zu Stacheln mit einer Unmenge an Haargel gestylt, wäre er hundertprozentig wie ein Nervenbündel ständig mit den Fingern hindurchgefahren. Aber so riss er sich zusammen und grub stattdessen die Fingernägel in die Handinnenfläche. Wie, um sich selbst zu ermahnen und seine Frisur nicht zu ruinieren. Denn diese war ihm bereits damals heilig gewesen. Eine Angewohnheit, die erst verschwand, als auch seine Haare im Laufe der Zeit, bedingt durch sein Alter, immer spärlicher wurden.

Mittlerweile waren wir fast allein im Klassenraum gewesen. Ich griff nach meinem Rucksack und ließ Ben wissen, dass er keinen Stress machen sollte.

„Es ist der erste Tag, da wird selbst die Schulze nicht pünktlich sein."

„Die ist immer pünktlich", hatte Ben zurück gefeuert und ich wusste, dass er Recht hatte. Das war mir allerdings herzlich egal gewesen. Ich wollte dir gegenüber schließlich cool rüberkommen und nicht wie ein Streber.

„Ihr habt auch Englisch bei Frau Schulze", hatte sich darauf Nadine eingeklinkt und im gleich Moment auf dich gedeutet. „Laura muss da auch hin und mein nächster Kurs liegt genau in der entgegengesetzten Richtung. Könnten du und Ben ihr den Weg zeigen?"

Deine Augen waren bei ihren Worten sofort in meine und Bens Richtung gehuscht. Als sich unsere Blicke das erste Mal trafen, war meine vorgetäuschte Gelassenheit wie weggeblasen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, sodass ich keinen Ton mehr rausbekam. Stattdessen konnte ich nur das tiefe grün deiner Augen bewundern und wie blöd mit offenem Mund vor dir stehen. Ben, der mittlerweile kurz davor war, die Geduld mit mir zu verlieren, zog mich unsanft am Arm in Richtung Tür. Dabei warf er einen Blick über seine Schulter und rief dir zu, dass wir uns beeilen sollten.

Wir waren den mittlerweile fast leeren Flur zum Englischraum hinuntergerannt. In ihrem schlammgrünen Rock und der akkurat gebügelten Bluse hatte Frau Schulze bereits mit geschürzten Lippen auf ihre Uhr starrend vor der Tür gestanden. Es hatte so ausgesehen, als würde sie stumm die Sekunden zählen, bis sie unser Todesurteil vollstrecken durfte – wie in einem fürchterlichen Horrorfilm. In Wirklichkeit watete sie darauf ihren Unterricht pünktlich auf die Sekunde beginnen zu können.

Mit pfeifenden Lungen, ausgelöst durch unseren Sprint die Schulflure entlang, waren wir ins Klassenzimmer gestolpert. Wobei Ben dir den Vortritt gelassen hatte, um anschließend selbst den Raum zu betreten. Somit war ich der Letzte und hatte verloren. Das sah Frau Schulze als Anlass mich an meinem Shirt zurückzuhalten.

Sie war eine Hexe durch und durch – hatte genauso eine strenge Ausstrahlung wie Professor McGonagall aus der Harry Potter Reihe. Aus der Buchreihe, welche ich genauso sehr mochte, wie auch du. Das sollte ich einige Zeit später erfahren. Der Unterschied zwischen unserer alten Englischlehrerin und McGonagall war allerdings, dass sie sich erstens, nicht in eine Katze verwandeln konnte und dass sich hinter ihrer harten Schale kein weicher Kern verborgen hielt.

Bereits ab der siebten Klasse bin ich regelmäßig mit ihr aneinandergeraten. Sie war eine dieser Lehrer, die keine Widerworte zuließ. Die es nicht mochte, wenn man aus der Reihe tanzte. Eine der alten Schule, die nur noch wenige Jahre bis zu Rente hatte. Unsere Generation hatte leider nicht das Glück, die jungen, motivierten Lehrer frisch aus dem Studium zu bekommen. Wir hatten viele alte und verbitterte, die den Fall der Mauer nicht verkraftet hatte. Also dem alten System und dessen Werten hinterher trauerten.

„Julian, wie ich sehe beginnst du das neue Jahr, wie du das alte beendet hast." Missbilligend hatte sie mich über ihr altmodisches Brillengestell hinweg gemustert.

In den letzten Jahren hatte ich bereits gelernt, dass ich, egal was ich in solchen Momenten sagen würde, nur verlieren konnte. Ich wollte mich in diesem Augenblick nicht auf ein Wortgefecht mir ihr einlassen. Auch wenn ich ahnte, dass die anderen Schüler aus unserem Jahrgang bereits darauf warteten, dass ich etwas erwidern würde. Doch hätte ich dies getan, hätte das bedeutet, dass ich nach der Stunde noch länger hätte bleiben müssen. Meine erste richtige Pause im letzten Schuljahr wollte ich unter keinen Umständen mit dieser alten Hexe verbringen. Stattdessen wollte ich dich besser kennenlernen.

Ohne, dass ich es kontrollieren konnte, war mein Blick wieder in deine Richtung gehuscht. Aufgeregt stellte ich fest, dass du dich zu Ben in die hintere Reihe gesetzt hattest.

Daher hatte ich nur gleichgültig mit den Schultern gezuckt und wollte so schnell wie möglich auf meinen Platz. Die Hexe musste verwundert über meine Beherrschung gewesen sein.

„Aus ihnen wird mit dieser Einstellung nie etwas werden", hatte Frau Schulze daher lautstark ihre Meinung der gesamten Klasse mitgeteilt.

Diese Art der Meinungsfreiheit zeigte bei mir keine Wirkung. Ich wusste, dass sie mich nicht leiden konnte und mich nur provozieren wollte, um einen Grund zu haben mich bereits heute nachsitzen zu lassen. Lapidar entgegnete ich nur, dass das ihre Meinung sei.

Zähneknirschend hatte mich die verbitterte Hexe daraufhin zu meinem Platz gehen lassen, während meine Freunde anerkennenden nickten. Obwohl du meine Pläne bereits zu diesem Zeitpunkt kräftig durcheinandergeworfen hattest, wusste ich noch immer was ich nach der Schule vorhatte zu tun. Um eine passable Englischnote kam ich also nicht umhin.

Zu einem späteren Zeitpunkt hast du mir einmal erzählt, dass du mich in diesem Moment für einen dieser Badboys gehalten hast, wie du sie aus der Bravo Foto Lovestorie kanntest. Solche Typen, von denen du dir geschworen hattest, dich nie drauf einzulassen.

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How We LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt