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„Essen", rief meine Mutter von unten.

Ich lag noch immer auf meinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und hing meinen Gedanken nach. Hunger hatte ich keinen und so rief ich in der gleichen Lautstärke zurück, dass ich keinen Appetit hätte.

„Ist mir egal", war die Antwort und ein ‚Im Haus wird nicht gebrüllt. Komm runter jetzt!', sollte folgen.

Widerwillig ergab ich mich also meinem Schicksal und ging nach unten. Mittlerweile war mein Dad ebenfalls nach Hause gekommen. In der Luft hing der Geruch seines Duschgels. Mein Vater arbeitete als Polier auf dem Bau. Seit ich denken konnte, gehörte es zu seinem üblichen Feierabendritual, dass er zuerst duschen ging, bevor er sich an den Esstisch setzte. Er begrüßte mich mit seinem obligatorischen „Hey Junge". Um sich sogleich zu erkundigen wie mein Schultag war. Bevor ich darauf meine Standardantwort liefern konnte, unterbrach mich meine Mutter, um zu erklären, dass ich schlechte Laune hätte. Danke Mama. Vielsagend hob mein Vater darauf nur die Augenbrauen und formte mit den Lippen ein O.

„Ich denke du willst nicht drüber reden?", hakte er dennoch nach und ich schüttelte nur den Kopf.

„Okay Junge, aber wenn du unsere Hilfe brauchen solltest, kannst du immer zu uns kommen. Nur, dass du es weißt."

Ich nickte und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Im gleichen Moment platzierte meine Mom die selbstgemachte Lasagne in der Mitte des Tisches. Dazu einen Salat und frisches Brot. Ich sah auf und unsere Blicke trafen sich. Mütterlich lächelte sie mich an und ich wusste, dass sie dieses Essen nur für mich gemacht hatte.

In genau solchen Momenten hatte ich schon immer Dankbarkeit empfunden, dass diese beiden Menschen meine Eltern waren. Damals sagte ich ihnen das nie, heute dafür umso mehr.

Es gab einfach nichts Besseres als die Lasagne meiner Mutter. Es war ihr Versuch, wenn ich schon nicht reden wollte, mir etwas Gutes zu tun und das wusste ich zu schätzen. Genauso wie das Angebot meines Dads, dass ich jederzeit mit meinen Problemen zu ihnen kommen konnte. Heute nutze ich es häufiger als zu dieser Zeit.

Stumm taten wir uns von dem guten Essen auf. Im Hintergrund lief leise das Radio. Ich nahm mir ein großes Stück Lasagne und wenig Salat. Das Brot lies ich ganz weg. Ich wollte mir den Magen halt nicht mit unnützem Zeug vollstopfen, wenn es leckere Lasagne gab.

Während ich das Essen in mich hineinschaufelte, begann meine Mom mit meinem Dad ein Tischgespräch. Sie sagte ihm, dass sie nochmal losgehen wollte, um die neuen Nachbarn willkommen zu heißen.

„Welche neuen Nachbarn?"

Ahnungslos sah mein Vater meine Mutter an, worauf sie nur stöhnte und meinte, sie hätte ihm schon letzte Woche davon erzählt. Er verneinte. Doch meine Mum beharrte darauf, dass es so gewesen sei. Dad allerdings war weiterhin völlig ahnungslos. Diese Ahnungslosigkeit war jedoch ganz und gar nicht gespielt. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Sieb und dieses Phänomen sollte er auch an mich vererbt haben, genauso wie den geringe Bartwuchs. Meine Mutter streichelte ihm liebevoll über die Wange und begann ein zweites Mal zu erzählen, um wen es sich handeln würde. Sie wusste, dass sie meinen Dad nicht mehr würde ändern können und akzeptierte seine Marotten. Ein Aspekt, der für mich eine gute Beziehung ausmachte.

Ich hatte allerdings so eine Ahnung, um wen sich gleich das Gespräch drehen würde, verhielt mich aber möglichst unauffällig.

„Familie Sommer ist in das alte Haus von Frau Schirmer gezogen. Sie haben es geerbt. Frau Schirmer war die Oma von Frau Sommer", erklärte meine Mutter.

Mit jedem weiteren Wort von ihr, wurde ich langsamer beim Essen, bis ich ganz innehielt, als meine Mom sich plötzlich an mich wandte.

„Du kannst mich begleiten. Sie haben eine Tochter in deinem Alter. Du müsstest sie doch heute in der Schule kennengelernt haben, oder?"

Da verschluckte ich mich fast an meinem letzten Bissen, welcher noch immer in meinem Mund war und begann zu husten. Worauf meine Mutter erschrak und augenblicklich hinter mir stand, um mir zwischen den Schultern auf den Rücken zu klopfen. Genauso, wie man es mit kleinen Kindern machte. Ich schluckte den Bissen runter und bekam schwer atmend wieder Luft. Es dauerte ein wenig bis ich mich von meiner Nahtoterfahrung erholt hatte. Meine Mum ließ von mir ab und fragte was denn heute bloß mit mir los wäre.

Ohne auf ihre Frage einzugehen, versuchte ich mich damit rauszureden, dass ich noch Schulaufgaben zu erledigen hätte und ich sie daher nicht begleiten könne.

„Es ist der erste Schultag, da hattest du all die Jahre keine Aufgaben auf. Komm, sei so lieb. Vielleicht werdet ihr Freunde. Ein Neustart ist immer schwer."

Ich war in einer echten Zwickmühle gefangen. Auf der einen Seite wollte ich dich sehen und auf der anderen war ich noch nicht bereit, dir wieder unter die Augen zutreten. Ausserdem wollte ich meiner Mutter nicht die Wahrheit erzählen, dass du der Grund für meine schlechte Laune warst. Doch es wäre, das einzige Argument gewesen, welches sie hätte gelten lassen. Was blieb mir also übrig, als mich zu ergeben. Hoffentlich würde das nicht mein Gnadenschuss werden.

„Okay ich komme mit."

Mein Schicksal schien also besiegelt und der Appetit war mir gehörig vergangen. Das bemerkte auch mein Vater. Das Augenmerk auf meinen noch halb vollen Teller gerichtet, fragte er mich ob ich vielleicht krank sei. Liebeskrank, dachte ich genervt.

„Ich gehe nach oben mich umziehen."

Perplex von meinem plötzlichen Abtreten, ließ ich meine Eltern am Tisch zurück. Wenn ich dir nun doch so bald wieder begegnen sollte, dann wollte ich das wenigstens nicht in einer fleckigen Jogginghose tun.

Bereits frisch angezogen stand ich im Badezimmer vor dem Spiegel. Mit meinen Haaren konnte ich damals nicht viel anstellen. Make-Up trug ich nicht, also blieb mir nur, mich selbst anzustarren.

Ich hatte wirklich keine Lust. Doch wenn ich nicht stattdessen ein Gespräch mit meiner Mutter über Bienchen und Blümchen führen wollte, musste ich da jetzt durch.

Ich nahm die Zahnbürste und putzte mir gründlich die Zähne. In der Lasagne war wie gewöhnlich ordentlich Knoblauch verarbeitet. Zum Schluss und als meine Mama bereits ungeduldig von unten nach mir rief, sprühte ich mir noch ein wenig Deospray an.

Ein letzter tiefer Atemzug und los ging es. Ich fühlte mich wie Harry Potter im ersten Film, als er die Stufen zu Professor Quirrell, unter dessen Turban sich Voldemort versteckt hielt, hinabstieg. Ich war mir sicher, dass ich auf den Weg in meine persönliche Hölle war.

„Wow, weniger ist manchmal mehr", empfing mich meine Ma und wedelte demonstrativ mit der Hand vor ihrer Nase.

Hatte ich etwa zu viel von dem Deo verwendet?

„Los gehts!", forderte meine Mutter mich auf und schob mich sanft, aber bestimmt Richtung Tür.

Scheiße, ich war absolut nicht bereit dich zu treffen und schien zu allem Überfluss wie ein Iltis zu stinken.

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How We LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt