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In deinem Zimmer war von eurem Umzug nur noch recht wenig zu sehen. Lediglich ein Paar gefaltete Kartons die neben dem Schrank gelehnt standen, sowie hier und da einige Kleiderhaufen deuteten darauf hin, dass du hier frisch eingezogen warst.

Es hingen bereits Bilder an deinen Wänden. Viele davon waren eindeutig selbst gezeichnet. Ein Laut der Bewunderung für deine Kunstwerke kam über meine Lippen. Fragend hattest du mich daraufhin angesehen.

„Sind die Bilder von dir?", erkundigte ich mich und du tatst es nur mit einem Nicken ab. Es wäre lediglich ein Hobby von dir.

Doch ich fand, dass du schon damals ein echtes Talent hattest. Vor allem die florale Muster und die bunten Mandalas stachen mir schon zu dieser Zeit ins Auge. Meine künstlerische Ader beschränkte sich lediglich auf einfache Strichmännchen. An besonders guten Tagen schaffte ich es sogar, das Haus vom Nikolaus ohne den Stift einmal absetzen zu müssen, aufs Papier zu bringen. Das war doch schließlich auch schon was, findest du nicht?

Dein Zimmer war größer als meins. Plus, du hattest keine Dachschräge, die einem noch weniger Raum ließ. Während ich nur Platz für ein Bett, Schreibtisch, sowie einen Schrank hatte, hattest du sogar eine kleine Couch mit Tisch, die du zu deinem Interieur zählen konntest.

Auf eben dieser hattest du mir einen Platz angeboten, welchen ich dankbar annahm. So hatte ich wenigstens etwas zu tun und stand nicht mehr einfach nur dumm in der Gegend rum. Ich ließ meinen Blick weiter durch dein Zimmer wandern. Zwei Wände waren in einem leuchtenden Orange gestrichen worden, während die anderen hell geblieben waren. Mein Blick landete auf deinem Bett. Es war unordentlich und erweckte den Eindruck, als wärst du eben erst aufgestanden. Ein ebenso heilloses Durcheinander herrschte auf deinem Schreibtisch. Lose Blätter, Stifte in allen Farben und mittendrin ein grauer Laptop, der aufgeklappt und eingeschaltet war. Dein Hintergrund war einfach nur schwarz. Das empfand ich als ungewöhnlich, denn insbesondere von Nadine war ich es gewohnt, dass sie immer ihren aktuellen Promischwarm als Hintergrundbild eingestellt hatte. Vorzugsweise spärlich bekleidet.

Was die Unordnung betraf, konnte ich damals noch nicht wissen, dass dies ein klares Indiz dafür war, dass Ordnung nicht deine Stärke war und wohl auch nie werden würde. Es war bereits in unserer ersten gemeinsamen Wohnung mein Part gewesen, dafür zu sorgen, dass wir nicht hilflos in deinem kreativen Chaos untergingen. Gestört hat mich diese Rollenverteilung jedoch nie.

Auf dem Boden vor deinem Bett lag aufgeschlagen auf den Seiten liegend ein Buch, dessen grünes Cover ich sofort erkannte. Begeistert fragte ich dich das Offensichtliche, denn was sonst sollte dieses aufgeschlagene Buch bedeuten.

„Du liest Harry Potter?"

Dein Blick huschte kurz zu dem Buch und an deinem breiten Grinsen hatte ich es sofort erkannt. Du warst genauso wie ich ein Potterhead. Mein Herz machte vor Freude einen Salto. Von Beginn an wusste ich, dass du verdammt toll bist, aber das hob dich in meinem Ranking in ganz neue Sphären, die bis dato noch nie jemand erreicht hatte.

„Die Kammer des Schreckens ist neben dem Feuerkelch mein Lieblingsteil", griff ich sofort den Gesprächsfaden, der sich mir bot, auf. Endlich hatte ich eine erste Basis mit dir gefunden.

Du warst ein Potterhead und ich meine, wenn meine Traumfrau eine Eigenschaft haben musste, dann war es die, dass sie meine Begeisterung für diese magische Welt teilen konnte. Wir gerieten sofort ins Plaudern und es fühlte sich einfach richtig an. Endlich wurde ich lockerer in deiner Gegenwart.

Auch Jahre später haben wir oft nächtelang über Fantheorien diskutiert, philosophiert oder auch gelacht, wenn sie uns völlig absurd erschienen. Es wurde zu einer unserer schönsten Tradition, dass wir uns ein Mal im Jahr gemeinsam alle acht Filme angesehen haben. Den Themenpark in Florida haben wir ebenfalls besucht, sowie die Filmkulissen in London. Wir waren beide so überwältig davon. Du hast sogar vor Freunde geweint. Ich nicht, auch wenn du gerne standhaft das Gegenteil behauptet hast.

Du mochtest immer den dritten Teil der Reihe am meisten. Meine Theorie dazu war schon damals, dass Mädchen immer den „Gefangen von Azkaban" bevorzugen, weil die Begegnung und die Geschichte Rund um Sirius so emotional ist und einem Hoffnung auf was Gutes für Harry gibt.

Irgendwann verfielen wir erneut in Schweigen. Du hast mit einer Strähne deiner langen Haaren gespielten und sie immer wieder um den Zeigefinger gewickelt, während ich nervös meine Hände geknetet habe. Anders, als in jedem Buch beschrieben, war dieses Schweigen wirklich peinlich und fühlte sich alles andere als angenehm an. Langsam kam meine eben erst abgelegte Unsicherheit dir gegenüber wieder zurück und wollte erneut die Oberhand gewinnen.

Um dies zu verhindern, kratzte ich meinen letzten Rest Mut zusammen und stammelte eine Entschuldigung.

„Wegen heute in der Schule", begann ich und traute mich nicht dich anzusehen. Stattdessen starrte ich auf meinem Fingerknöchel, welche bereits vor Anspannung hell hervortraten und die Überwindung, die es mich kostete, auch für dich sichtbar gemacht hatte.

„Also, das tut mir echt leid, wenn ich da irgendwie einen wunden Punkt bei dir getroffen habe. Ich wollte dich auf gar keinen Fall blöd anmachen wegen deines Musikgeschmacks, oder dir weh tun."

Im Grunde ratterte ich die Entschuldigung rasend schnell runter, weil ich Angst hatte, dass sich sonst meine Courage wieder in Luft aufgelöst hätte.

„Ist schon gut. Ich hab einfach überreagiert. Du hast im Grunde nichts falsch gemacht. Es gibt einfach ein Lied von Rosenstolz, dass mir eine Menge bedeutet. Aus diesem Grund habe ich wohl so angefressen reagiert."

Mit jedem Wort wurdest du immer leiser und schienst mehr und mehr in dich zusammen zu sinken. Auf einmal sahst du so traurig und zerbrechlich aus. Mich überkam das dringende Bedürfnis dich in den Arm zu nehmen. Getraut habe ich mich allerdings nicht. Stattdessen rückte ich unbehaglich auf meinem Platz herum. Plötzlich fühlte sich der Stoffbezug deiner Couch, auf dem wir noch immer saßen, wie Feuer an.

Bis zu diesem Punkt war ich noch nie in solch einer Situation gewesen. Allein mit einem Mädchen, das ich wirklich mochte, das traurig war und ohne blassen Schimmer, warum sie diese Emotionen in sich trugt. Mich überforderte die Situation wirklich. Ich wollte nicht schon wieder etwas falsch machen.

Vorsichtig erkundigte ich mich, ob du darüber reden wolltest und zu meiner Überraschung hattest du genickt.

„Es ist nichts Dramatisches. „Liebe ist alles" wurde auf der Beerdigung meiner Oma gespielt. Sie war besonders für mich und naja dieses Lied habe ich für sie ausgesucht ..."

Dann brach deine Stimme und bevor du dich verschämt wegdrehen konntest, sah ich noch aus den Augenwinkeln, dass dir eine Träne über die Wange lief. Was war ich für ein Idiot gewesen, mein Maul so weit aufzureißen. Ich hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt.

Es wäre wohl der richtige Moment gewesen, um dich in den Arm zu nehmen. Doch irgendwie hatte es sich falsch angefühlt, fast so als hätte ich die Situation ausnutzen wollen, nur um dir näher kommen zu können. Zumindest habe ich es so empfunden. Also reichte ich dir lediglich eines der Taschentücher aus der dazugehörigen Box, die auf deinem kleinen Couchtisch aus dem schwedischen Möbelhaus stand. Anschließend klopfte ich dir noch recht unbeholfen auf die Schulter. Fehlte nur noch, dass ich sowas wie „nah nah" gesagt hätte um die Situation noch merkwürdiger zu gestalten.

Dennoch fühlte ich mich damals das erste Mal mit dir verbunden. Für mich war es allerdings viel wichtiger, dass ich glaubte zu spüren, dass es dir genauso ging.

Doch wie es solch besonderen Augenblicken leider viel zu häufig an sich haben, vergehen sie innerhalb von Sekunden. Nur einen Wimpernschlag später klingelte dein Handy.

Du warst direkt aufgesprungen und wolltest den Anruf sofort annehmen. Vielleicht, um aus der Situation fliehen zu können, oder, weil du bereits den ganzen Abend auf diesen Anruf gewartet hattest.

Gesagt hattest du nur: „Sorry, das ist mein Freund. Wir telefonieren jeden Abend. Stört es dich, mich allein zu lassen?"

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How We LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt