~*~
Wir begleiteten unsere Eltern in euer Wohnzimmer. Auch hier präsentierte sich mir ein ähnliches Bild, wie zuvor schon im Flur. Vor der großen Fensterfront, welche fast die gesamte Rückwand einnahm, stapelten sich die Umzugskartons. Der Fernseher war allerdings bereits angeschlossen und es lief ein Krimi auf ZDF. Doch bevor ich herausfinden konnte, wer der Täter war, wurde der TV von deiner Mutter ausgeschaltet. Eure riesige Sofalandschaft aus dunkelrotem Rauleder war bereits aufgebaut und so konnte dein Papa uns auch auffordern, dass wir es uns bequem machen sollten.
Ich muss zugeben, dein Auftritt damals hatte mich sehr verunsichert. Hattest du dich wirklich nicht mehr an mich erinnert? Unmöglich wäre das nicht gewesen. An deinem ersten Schultag hast du so viele neue Leute kennengelernt, da war ich doch im Grunde auch nur einer von vielen. Doch genau so einer wollte ich nicht sein. Einer von vielen. Ich wollte lieber der Eine von vielen sein. Ich weiß, das klingt total schnulzig, doch genau das war und ist auch noch heute die Wahrheit. Dafür hätte ich sogar in Kauf genommen, dass ich eben der eine bin, der deine Musikgeschmack nicht teilte.
Wir saßen uns beide schräg gegenüber und du würdigste mich keines Blickes, während ich immer wieder zu dir rüber geschielt hatte. Jetzt, da du mich zu ignorieren schienst, wollte ich unbedingt, dass du mich bemerken würdest. Meine Gefühlswelt war genauso ambivalent, wie Pommes in einen Milchshake zu tauchen und diese dann zu essen. Mal ehrlich, wie kann dir sowas schmecken, aber gleichzeitig lehnst du Ananas auf Pizza konsequent ab. In einigen Punkten solltest du für mich immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. So wie auch damals.
Meine innerliche Anspannung wuchs und ich versuchte diese Unruhe abzubauen, indem ich nervös mit meinem Bein wippte. Unsere Eltern waren in ein Gespräch vertieft, welches du interessiert zu verfolgen schienst. Bis plötzlich die Hand meiner Mutter auf meinem Knie landete, um mich davon abzuhalten, ständig damit auf und ab zu wippen. Sie hasste es, wenn ich das tat.
„Bist du nervös?", fragte sie ohne Rücksicht auf Verluste und schlagartig hatte ich deine Aufmerksamkeit, sowie die deiner Eltern.
Meine Ohren wurden heiß und ich stotterte, dass ich zur Toilette müsste. Denn nun war mir dein Interesse doch nicht recht. Ich sage ja, dass ich unter einer völlig ambivalenten Gefühlswelt litt.
„Junge, dann sag doch was." Dein Vater, der neben mir gesessen hatte, schlug mir kräftig auf die Schultern, sodass ich etwas erschrocken über die Wucht in mich zusammensackte.
Für einen so kleinen Mann, selbst ich überragte ihn damals schon, hatte er ordentlich Kraft. Später, als ich erfuhr, dass er von Beruf Fernkraftfahrer war, wusste ich auch, woher diese rührte. Du musstest dir ein Lachen verkneifen. Das amüsierte Schnaufen deinerseits hatte dich verraten. Der Schulterklopfer deines Vaters hatte mich aber auch mindestens fünf Zentimeter meiner Körpergröße einbüßen lassen.
„Laura, zeig ihm bitte, wo die Toilette ist. Aber nimm die oben. Die hier unten ist defekt, da müssen wir erstmal einen Handwerker kommen lassen", forderte deine Mutter dich auf.
Meine Mum bot direkt an, dass sich mein Vater das doch mal ansehen könnte. Durch seine Arbeite als Polier hatte er in vielen handwerklichen Bereichen einen Einblick und konnte so vielleicht helfen.
Das weitere Gespräch bekam ich bereits nicht mehr mit, denn du warst schon auf der Treppe, bevor ich mich überhaupt von der Couch erhoben hatte. Ich sputete mich, um dir zu folgen und fiel eher die Treppe nach oben, als dass ich sie hochstieg. Natürlich hattest du das mitbekommen. Ich zählte schon gar nicht mehr in wie viele peinliche Situationen ich mich in deiner Gegenwart bereits manövriert hatte.
Oben angekommen hattest du mich nur angegrinst, bevor du die Bombe platzen ließest.
„Warum bist du denn so nervös Julian?"
Boom, das hatte gesessen. Du hattest mich also doch wiedererkannt. Ich war völlig perplex und wie du es bereits von mir gewohnt warst, konnte ich dich nur wieder anstarren. Mein Gehirn war nicht einmal in der Lage in dieser Sekunde zu registrieren, dass du dir sogar meinen Namen gemerkt hattest.
Die Schadenfreude über deinen Triumph war dir im Gesicht abzulesen. Wortlos deutetest du auf eine Tür. Mein Gehirn war noch immer nicht wieder einsatzbereit und so starrte ich nur wie blöde auf die Tür uns gegenüber.
„Du wolltest doch auf die Toilette."
Eigentlich musste ich gar nicht. Allerdings konnte eine Ladung kaltes Wasser meinem dünnen Nervenkostüm eventuell ganz guttun. Ich schloss mich also ins Bad ein und haute mir erstmal eine ordentliche Menge des kalten Nass' Gesicht. Es tat verdammt gut. Es nervte mich, dass ich ganz offensichtlich nicht in der Lage zu sein schien, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen, oder mich überhaupt erstmal völlig normal in deiner Anwesenheit zu verhalten. Stattdessen musste ich wie ein absoluter Psychopath auf dich wirken. Das konnte doch alles verdammt nochmal nicht so schwierig sein. Doch diese Wirkung, die du von Beginn an auf mich hattest, ließ alle Leitungen in meinem Kopf einen Kurzschluss auslösen.
Durch die Tür hörte ich dich fragen, wie lange ich noch brauchen würde. Verdammt, ich hatte gedacht du wärst wieder runter ins Wohnzimmer gegangen. Du musste ja glauben, ich würde gerade auf der Schüssel hocken und sonst was machen. Man ey, wie peinlich. Ich wollte nur noch im Erdboden versinken und nie wieder auftauchen. Vielleicht würde ich am anderen Ende der Welt wieder rauskommen und konnte ein neues Leben beginnen. Hier mit dir hatte ich ohnehin alles völlig verkorkst. Ein erneuter Versuch den lieben Gott genau darum in einem kurzen Stoßgebet zu bitten, wurde wieder nicht erhört. Was blieb mir also übrig, als die Tür zu öffnen.
Lässig lehntest du an der gegenüberliegenden Wand, während du auf mich gewartet hattest. Erst jetzt fiel mir auf, dass du ein verwaschenes, drei Nummern zu großes Shirt mit einem Knoten um die Taille herum trugst. Dazu eine weite Jogginghose. Halleluja, selbst in diesem Outfit fand ich dich noch toll. Du hattest einfach so gewirkt, als würdest du dich verdammt wohl in deiner Haut fühlen und das hat mich von Beginn an beeindruckt.
„Ich hab nicht", begann ich, um dann den Satz nochmal nur zu beginnen. „Also ich war nur..."
„Ist schon gut. Komm wir gehen in mein Zimmer. Da unten schlafe ich sonst ein."
Mich musste der Schlag getroffen haben, du hattest mich doch nicht wirklich gerade in dein Zimmer eingeladen. Das musste ein Irrtum sein. Allerdings wollte ich die Chance auch nicht verstreichen lassen und folgte dir wie ein treues Schoßhündchen.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Vielleicht hatte ich doch noch eine Chance darauf, mit dir eine Freundschaft zu beginnen. Auf mehr wagte ich zu diesem Punkt in unserer Geschichte nicht zu hoffen.
~*~
DU LIEST GERADE
How We Love
RomanceDie Geschichte einer Liebe, welche ein gesamtes Leben überdauern sollte. Eine Liebe die durch Höhen und Tiefen geht. Eine Liebe die glücklich macht und Narben hinterlässt. Die Geschichte von Laura und Julian. Cover von @little_ophelia Betaleserin @S...