6. Nach all der Zeit?

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P.o.V.: Rye

»Ja, Mum, was gibt's?«, fragte ich sie, als ich sah, dass sie mich anrief.

»Rye, sie haben sie gefunden. Sie haben Jay und Anne gefunden!«, rief sie mir viel zu laut ins Ohr. Und trotzdem glaubte ich mich verhört zuhaben. Nach siebzehn Jahren sollen sie doch gefunden worden sein?! Mein Gehirn setzte aus.

»Nach all der Zeit?«, war das einzige, was ich raus bekam.

»Ja und wir lernen sie am Freitag kennen. Versuch es zumindest einzurichten, dass wir uns um zwei Uhr nachmittags in London treffen können.«, sagte sie, dann fügte sie noch schnell »und gib auch Robbie bescheid, ich erreiche ihn gerade einfach nicht.«, hinzu.

»Ja mach ich, wir sehen uns dann morgen.«, krächste ich noch gerade so, dann war meine Stimme weg.

»Ja, bis morgen.«, sagte Mum noch, dann war der Anruf beendet.

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich wusste nicht, was ich gerade fühlte. Auf der einen Seite war ich glücklich, auf der anderen Seite hatte ich Angst, dass sie mich nicht mögen würden. Zum einen wollte ich Freude strahlend umher laufen und singen, zum andern konnte ich mich nicht bewegen, geschweigenden auch nur einen Muks rausbringen.

Siebzehn Jahre waren vergangen. Sie lebten, ich würde sie noch mal im Arm halten können. Haltlos begannen die Tränen zu fließen.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an den ich sie das erste Mal halten durfte. Ich hatte mich auf den weichen Teppich im Wohnzimmer gesetzt und einige Kissen vor mir ausgebreitet. Robbie hatte sich neben mich gesetzt. Mum musste schmunzeln, als sie sah, was wir vorbereitet hatten. Sie gab uns jedem einen der Zwillinge. Ich hielt Jay und Robbie hielt Anne. Unsere Mum fand das Bild so süß, dass sie es für immer verewigt hatte. Heute war dieses Bild wie ihr Talisman, sie ging nirgends ohne es hin.

"Rye?...Rye?" Zwar hörte ich, wie Andy nach mir rief, doch ich konnte nicht reagieren. Schließlich sprang die Tür auf.

"Rye!", sagte Andy erleichtert, als er mich fand, doch dann wurde er sofort wieder etwas panisch. "Was ist los Rye?", fragte er. Ich spürte, wie er sich neben mich setzte und seine Arme um mich legte. Ich konnte nicht anders, also fiel ich gegen seine Brust und ließ meine Tränen einfach laufen.

Als ich mich wieder eingekriegt hatte, fragte Andy noch mal was los sei. "Sie haben sie gefunden.", murmelte ich.

"Wer hat wen gefunden?", fragte Andy und erst jetzt wurde mir klar, dass ich es ihnen nie erzählt hatte.

"Amanda hat meine Geschwister gefunden."

"Rye, kannst du bitte beim Anfang anfangen und mir die ganze Geschichte erzählen?"

Ich atmete tief durch und nickte. "Also vor achtzehn Jahren, zwei Monate nach meinem Geburtstag bekamen Robbie und ich zwei kleine Geschwister, einen Jungen und ein Mädchen. Diese wurden keinen Monat nach ihrem ersten Geburtstag entführt, zwei Jahre vergingen und die Polizei erklärte sie für 'verschollen und tot' oder so. Jedenfalls wollte unsere Mutter nicht aufgeben und somit hat Amanda Holyday angefangen nach ihnen zu suchen. Sie hat nie etwas gefunden außer einem kleinen Hinweis zwischen drin und jetzt hat Mum angerufen und gesagt, sie haben sie." Wieder brannten meine Augen vor Tränen.

Als ich verstummte zog mich Andy wieder in eine feste Umarmung. Als sein Geruch mir in die Nase stieg konnte ich mich wieder etwas entspannen. Er strich mir sanft über den Rücken.

"Warum hast du nie was gesagt?", fragte er. Ich zuckte mit den Schultern, ich hatte mit einem Wiedersehen schon längst abgeschlossen gehabt.

"Ich hab es verdrängt und mit so einer Meldung gar nicht mehr gerechnet.", antwortete ich ihm.

The lost 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt