0.6

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„Was ist denn los mit dir? Du wirkst schon den ganzen Tag so abwesend.", wollte Anna wissen.

„Ich habe die Nacht nicht gut geschlafen. Und du weißt, wie wichtig Schlaf für mich ist.", antwortete ich schulterzuckend. Gelogen war es nicht, die ganze Wahrheit aber auch nicht.

Aber es stimmte, ich war schon den ganzen Tag über abwesend, dass ich genauso gut hätte zu Hause bleiben können. Denn von den letzten zwei Vorlesungen hatte ich absolut nichts mitbekommen. Viel zu sehr musste ich über den gestrigen Tag nachdenken. Dabei hatte ich mich von vornherein selbst ermahnt gehabt, dass das Date wahrscheinlich nur ein Witz war. Und dennoch - spätestens nachdem Kaden tatsächlich vor meiner Tür stand und ich keine Ahnung hatte, was ich von dem kommend Abend zu erwarten hatte, hatte sich ein Fünkchen Vorfreude in mir entfacht gehabt.

Umso härter hatte es mich getroffen, als er nach den Worten: So leid es mir tut, aber wir müssen das Date doch auf ein anderes mal verschieben, mir den Motorradhelm, den ich mir gerade aufsetzen wollte, entnommen hatte, ihn sich selbst aufsetzte, sich lässig auf sein Motorrad schwang und mit einem Abschiedswink davon fuhr.

Ich weiß gar nicht, wann ich mich das letzte mal so gedemütigt gefühlt hatte. In dieser Art und Weise noch nie.

Sobald ich mich zurück in meiner Wohnung geschleppt hatte, schälte ich mich direkt aus meinem Kleid, schminkte mich im Bad ab, ohne mich dabei nur einmal in den Spiegel anzuschauen, schlüpfte in meine gemütlichen Klamotten und verkroch mich in mein Bett.


Es war das letzte Fünkchen an Stolz, was mich davor bewahrte, auch nur eine Träne zu vergießen.

Immerhin, die Wahrscheinlichkeit, Kaden auf den Campus zu begegnen, war sehr gering. Denn so hatte ich ihn, außer in meinem Wahlfach letztes Semester, weder vorher noch nachher irgendwo gesehen gehabt. Und da ich niemanden von den geplanten Date erzählt hatte, auch nicht einmal Anna, musste ich auch niemanden von den vorzeitigen Ende berichten. Es waren also die besten Voraussetzungen gegeben, den gesamten Tag einfach zu vergessen.

So simpel die Theorie auch war, mein Talent, sämtliche Situationen in meinem Leben zu überdenken, hielt mich davon ab, dies in die Praxis umzusetzen.

Vielleicht war es für den ein oder anderen Außenstehenden nicht nachvollziehbar, wieso ich mich wegen dieser Sache so elend fühlte. Aber was sollte ich sagen? Sich in irrationale Gefühle und Gedanken reinzusteigern, war eins meiner weiteren weniger Supertalente.

So sehr ich also versucht hatte, all das zu vergessen und mich der Welt der Träume zu verlieren - mein Gehirn hatte andere Pläne. Somit bestand die eigentlich erholsame Nacht aus unruhigen Halbschlaf und halbstündlichen Aufstehen.

„Aber sonst ist wirklich alles okay?" Anna beäugte mich mit einem kritischen Blick und riss mich somit aus meinen Gedanken.

„Ja, wirklich alles okay. Ich hol mir nur noch was zu Essen, passend dazu einen Kaffee und dann bin ich wieder die Alte.", versicherte ich ihr. „Soll ich dir was mitbringen?"

Sobald sie den Kopf geschüttelt hatte, ging ich mit schnellen Schritten in Richtung Mensa. Leider war ich nicht die Einzige, die auf die glorreiche Idee kam, zwischen den Vorlesungen schnell noch was aus der Mensa zu holen.

Viel zu viele Menschen tummelten sich gerade vor dem Regal, wo es frisch belegte Brötchen, Donuts und weiteres heißbegehrtes Gebäck gab. Ich wartete lieber ab, bis sich die Traube an Studenten aufgelöst hatte, in der Hoffnung, dass noch was übrig blieb. Natürlich hätte ich dorthin gehen, und mich dank meiner kleinen Körpergröße geschickt durch die Menge quetschen können - aber heute war mich alles andere als nach ungewollt nahen Körperkontakt mit fremden Menschen.

Glücklicherweise stand in dem Moment keiner vor der Kaffeemaschine - vielleicht war heute doch so etwas wie mein Glückstag!

Bevor sich jemand anderes vor mir einen Kaffee holen konnte, ging ich mit eiligen Schritten zur Kaffeemaschine. Wenige Augenblicke später floss das goldbraune Lebenselixier in mein Tasse. In wenigen Minuten, sobald mein Kaffee kühl genug war, um den ersten Schluck zu nehmen, konnte der restliche Tag nur noch gut werden. Dessen war ich mir sicher!

Und tatsächlich, in der Zwischenzeit, in der ich mir meinen Kaffee geholt hatte, hatte sich die Menschenmasse vor dem Essen wie in Luft aufgelöst.

Mit meinem heißen Kaffee bewaffnet ging ich zielsicher zum Regal und wollte schon nach dem Käsebrötchen greifen, bis ich festellen musste, dass keins mehr übrig war. Das konnte doch nicht sein! Ich war meinem Glück doch so nah gewesen! Leider waren die Regale, die sich in meinen Blickwinkel befanden, so gut wie leer.

Sicherheitshalber ging ich ein paar Schritte zurück, um einen besseren Blick zu den höheren Regalen zu bekommen. Immerhin hatte mich diesmal meine Intuition nicht im Stich gelassen. Denn ein Regalbrett weiter oben, befand sich tatsächlich ein letztes Käsebrötchen. Da sich das Brötchen ziemlich am Rand befand, konnte ich es vielleicht von alleine erreichen.

Natürlich hätte ich auch zwei weitere Optionen gehabt. Die erste wäre, mich in der Mensa umzuschauen und Studenten zu fragen, ob sie mir vielleicht bei meinem Problem behilflich sein könnten. Aber wenn ich daran dachte, was mir das Fragen eines Fremden eingebracht hat - nämlich ungewollt auf ein Date überredet zu werden, was letztendlich nie stattgefunden hatte - verwarf ich schnell diese Idee. Die zweite Option wäre, zurück zu Anna zu gehen und sie um Hilfe zu bitten.

Nein! Ich werde es diesmal ganz alleine schaffen! Dieser vermeintlich kleine Erfolgserlebnis brauch ich für mein angekratztes Ego!

Ich näherte mich dem Regal, so nah wie möglich, stellte mich auf die Zehnspitzen und versuchte mich so groß wie möglich zu machen. Mit den Fingerspitzen konnte ich gerade so das heiß ersehnte Brötchen berühren. Doch leider war ich zu weit entfernt, um es anständig greifen zu können. Aber so schnell gab ich nicht auf!

Gerade wollte ich zu einem kleinen Sprung ansetzen, als aus dem Nichts unmittelbar über mir eine Hand erschien, die mühelos nach genau diesen Käsebrötchen griff!

Ich wollte schon zu einem lautstarken Protest anfangen, als mir das Brötchen schon in greifbarer Höhe hingehalten wurde.

Sobald ich das Käsebrötchen in meiner Hand hielt und meine Lippen schon den ersten Buchstabe für Danke geformt hatten, blickte ich hoch zu meinen Held des Tages.

Schlagartig blieben mir die dankenden Worte im Halse stecken. Denn der vermeintliche Held, war natürlich niemand anderes als Kaden.

Auch wenn vielleicht ein winzig kleiner Teil gedacht hatte, dass er sich spätestens jetzt, für die gestrige Aktion entschuldigen wollte, so wurde ich - mal wieder - nur enttäuscht.

„Also langsam wird es wirklich langweilig, ständig dein Retter in der Not zu sein.", begrüßte mich Kaden mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Wow. Einfach nur wow.

Ich weiß ja nicht, wie es euch damit geht - aber ich würde vermutlich den heißen Kaffee in sein Gesicht schütten. Mehr als verdient hat er es ja.

Oder was würdet ihr ihm am liebsten entgegenschleudern?

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