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~einige Wochen später~

Lance' Sicht:

Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur kurz nach Hause zu kommen, da ich etwas vergessen hatte, und gleich wieder ins Büro zu verschwinden. Jedoch klingelte es an der Tür und als ich sie öffnete, stand (DN) draußen. "Hi. Störe ich gerade?", fragte sie vorsichtig. "Nein, natürlich nicht. Ist alles okay?", erwiderte ich. Die Büroarbeit konnte warten, denn ich sah, dass es ihr nicht gut ging. "Nein, es ist eben nicht alles okay", antwortete sie wahrheitsgemäß. Ich brachte (DN) nach drinnen und sie setzte sich aufs Sofa. "Willst du darüber reden?"
"Nein. Ich... Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wieso ich jetzt überhaupt hergekommen bin. Es ist verwirrend, das ist mir klar, aber ich kann nicht darüber reden, nicht jetzt."
"Ich kann mir vorstellen, warum du hergekommen bist", antwortete ich nach einer kurzen Stille.
"Du brauchst einen Rat. Du denkst zu viel nach und es wird immer unerträglicher, weil du dir selbst Vorwürfe machst."
"Das kann schon sein", antwortete (DN) langsam und mir entging der fragende Unterton in ihrer Stimme nicht. Also stand ich auf und holte ein Glas mit Wasser, dann setzte ich mich wieder.
"Wie schwer ist dieses Glas?", wollte ich wissen.
"Ähm... Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?" Sie rätselte und nannte noch ein paar Spekulationen.
Ich lächelte sie an. "Vor einiger Zeit las ich etwas über eine Psychologin, die über vor Publikum über Stressmanagement sprach. Sie stellte dieselbe Frage und die Antworten waren sehr unterschiedlich. Schlussendlich erklärte sie, dass das absolute Gewicht ja eigentlich gar nicht von Bedeutung sei. Stattdessen kommt es darauf an, wie lange man dieses Glas in der Hand behält. Wenn man es für kurze Zeit hält, ist es kein Problem. Doch je länger man so verweilt, desto schmerzhafter wird es und irgendwann fühlt sich der Arm taub an. Genau dasselbe gilt für unsere Sorgen. Man kann für kurze Zeit darüber nachdenken, doch je länger man es macht, desto unwohler wird einem. Es tut nicht gut, (DN). Jemandem helfen zu wollen und seine eigenen Probleme dadurch komplett zu verbannen ist genauso falsch- versuch, ein Gleichgewicht zu finden. Sei für andere Menschen da, wenn es ihnen schlecht geht und kümmere dich um sie, vernachlässige dabei jedoch nie deine eigenen Probleme. Du bist sehr wichtig und auch wenn du das mal nicht sehen kannst, heißt das nicht, es würde nicht stimmen."

Wir redeten noch ein wenig, bis ich ihr schließlich anbot, sich eines meiner Bücher zu nehmen und sie sich ein Fachbuch raussuchte, indem es um um emotionale Gewalt im Bezug auf Kinder ging. Das Buch war noch recht neu, weshalb ich es noch nicht ordentlich wegsortieren konnte und es ganz oben auf einem Stapel mit weiteren neuen Büchern lag, wo es ihr sofort aufgefallen war.
Sie setzte sich zurück aufs Sofa und ich versicherte mich ein letztes Mal,  dass es ihr etwas besser ging, dann zog ich mich zurück und arbeitete doch ein wenig von Zuhause aus.
Theoretisch hätte ich sie auch nach Hause schicken können, doch es war schon spät und ich fühlte mich bei dem Gedanken daran, für (DN) da sein zu können- sollte sie reden wollen-, wohler. Natürlich konnte sie jederzeit losgehen, aber ich hatte das Gefühl, dass es bei ihr Zuhause etwas gab, was sie davon abhielt, zurückzugehen- woher dieses Gefühl kam, wusste ich jedoch nicht.

Sicht des Readers:

Das Buch war informativ und dafür, dass ich eher ungern Fachbücher las, war ich ziemlich gefesselt. Was dort über emotionale Gewalt geschrieben wurde, war erschreckend. Über sexuelle oder körperliche Gewalt sprach man häufiger, aber nicht darüber, dass Menschen angeschrien und herabgesetzt wurden. Doch tatsächlich fand Joseph Spinazolla durch eine Studie mit 5000 Kindern heraus, dass diejenigen, welche mit emotionaler Gewalt zu kämpfen hatten, ebenso häufig an Depressionen litten, wie jene, die körperliche Misshandlung erfuhren. Auch Angstzustände, Suizidgedanken, ein geringes Selbstbewusstsein und posttraumatische Stresssymptome kamen bei gleichaltrigen Kindern genauso häufig vor. Außerdem fand man an der University of Pittsburgh heraus, dass Kinder mit einer slochen Art von Trauma häufiger logen und stahlen.
Auch über das Verhalten der Eltern wurde berichtet: Wenn man als Elternteil die Beherrschung verlor, sollte es sich auf jeden Fall entschuldigen. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul erklärte, dass Kinder echte und emotionale Menschen um sich brauchten, also sollte man die Verantwortung für diese starke Reaktion auf sich nehmen.
Ich hatte noch nie von dem Therapeuten gehört, aber anscheinend hatte er schon mehrere Bücher zum Thema Familie und Erziehung veröffentlicht und ein Elternberatungsprojekt gegründet. In vielen europäischen Ländern hatte es bereits selbstständige Abteilungen.

Lance' Sicht:

Es war nach Mitternacht, als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute. Ich hatte die Zeit völlig vergessen und auch (DN) ging es so, denn als ich nach ihr schaute, saß sie noch immer auf der Couch und las in dem Fachbuch. Anfangs hatte ich befürchtet, sie würde es langweilig finden, doch ich hatte mich wohl getäuscht; (DN) war so vertieft, dass sie mich anfangs gar nicht bemerkte.
"Wie es aussieht, ist das Buch interessant. Es ist schon halb eins", sagte ich.
"Was?! Ich... Tut mir Leid, ich wollte eigentlich nicht so lange bleiben", stotterte sie.
"Kein Problem", unterbrach ich (DN) und lächelte sie an.
Wir schwiegen einen Moment, ehe sie plötzlich erzählte: "Johann Wolfgang von Goethe sagte mal: 'Denn wir können die Kinder nach unserem Sinn nicht formen. So wie Gott sie uns gab, so muss man sie haben und lieben. Sie erziehen aufs Beste und jeglichen lassen gewähren, denn der eine hat die, der andere andere Gaben. Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigene Weise gut und glücklich.'
Ich finde es wichtig, dass Kinder einen Ort haben, ein Zuhause, wohin sie gerne zurückkehren und wo sie ganz sie selbst sein können. Zu hören, dass es Kinder gibt, die sich davor fürchten, nach Hause zu kommen, weil sie dort häusliche Gewalt erleben, ist einfach nur schrecklich. Die Kinder versuchen, alles richtig zu machen, doch trotzdem können sie es ihrer Familie nicht recht machen und gehen Tag für Tag durch die Hölle." Ich setzte mich zu ihr auf das Sofa. "Ja, es ist grausam", bestätigte ich.

Wir blieben noch lange sitzen und redeten über alles mögliche. Nicht unbedingt über Gewalt an Kindern, aber auch.
Irgendwan stand ich auf, ging und kam mit ein paar Kissen und Decken zurück. "Ich werde dich mitten in der Nacht auf keinen Fall nach Hause schicken. Du kannst auf der Couch schlafen, wenn das kein Problem ist. Weck mich, wenn du noch etwas brauchst. Ich gehe noch kurz ins Bad, mache mich fertig und lege dir wenigstens ein Handtuch raus", erklärte ich, bevor sie protestieren konnte. (DN) nickte und wünschte mir 'Gute Nacht'.
Ich erwiderte es und wandte mich zum Gehen ab, als mir noch etwas einfiel. "Morgen möchte ich übrigens genauer wissen, was du zu dem Buch sagst, ich kenne es nämlich noch nicht."
Sie streckte einen Daumen in die Höhe und gähnte.
(DN) wirkte glücklicher, doch wenn ich genauer hinsah, bemerkte ich noch immer Schuldgefühle und Traurigkeit in ihren Augen.

~am nächsten Vormittag~

Am nächsten Morgen war von (DN) nichts zu sehen. Einzig der ordentliche Stapel aus Decken und Kissen deutete daraufhin, dass überhaupt jemand hier geschlafen hatte. Ganz oben auf den Kissen lag ein Zettel, auf dem sie sich dafür bedankte, dass sie gestern bei mir sein durfte. Weiter schrieb sie, dass sie noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte, weshalb sie mir das nicht persönlich sagen konnte. Außerdem versprach (DN) mir, dass sie die Rezension gerne bei einem Kaffee im Royal Diner nachholen würde. Bei dem Gedanken an unsere Zeit dort musste ich automatisch lächeln.

Lance Sweets x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt