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Harter Boden mit hohem, weichem Gras empfing sie. Er hielt ihr Gewicht ohne Mühe und vorsichtig tat sie erste Schritte in der neuen Welt. Das Gras strich an ihren ausgestreckten Armen entlang, war nicht rau und kurz, wie auf den Inseln. Ein saftiges Grün färbte die sanften Hügel, die sich um sie herum erstreckten.
Sie war noch nie hier gewesen, doch vieles kannte sie aus dem Traum. Das Wissen, mit dem jeder Engel erwachte, war auch ihr gegeben. Verstoßen mochte sie sein, doch klug wie jeder Engel - und eines Tages wusste sie vielleicht mehr als der Traum.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. Dünne Wolken durchbrachen das reine blau, doch von den Inseln war nichts zu sehen. Verborgen wurden sie durch Magie, die sie auch in der Luft hält. So hatte sie es gelernt.
Auch das die Engel die Inseln nicht sicher verlassen konnten, wusste sie. Eigentlich. Doch sie war hier, das wurde ihr bewusst. Sie senkte den Blick wieder und setzte sich in des Gras.
Es verbarg sie nicht vollständig. Sie konnte noch leicht über die Spitzen sehen und nachdenken. Sie hatte das Unmögliche geschafft. Sie hatte die Inseln verlassen und das Land darunter erreicht. Doch was sollte sie nun tun. Sicher würde es bald Nacht werden und die Sterne das Licht der Sonne ersetzen. Dafür musste sie einen Unterschlupf finden.

Ihr Volk schlief auf den Bäumen, die die Inseln bedeckten. Getrennt voneinander, doch als große Gruppe.
Hier jedoch gab es keine Bäume. Nicht in diesem Grasland. Sie wusste nichteinmal ob es Tiere, Früchte oder Wasser gab. Ohne Nahrung konnte ihr Volk zwar leben, doch Wasser war elementar. Wenn sie am Durst sterben würde, wäre ihre Reise schnell vorbei.

Thea seufzte und erhob sich. Zuerst musste sie eine Quelle finden, dann einen Unterschlupf. Dies waren ihre Prioritäten. Also schloss sie die Augen, vertraute ihrem Instinkt und ging ein paar Schritte, dann sah sie geradeaus. In der Ferne stieg eine dünne, dunkle Wolke auf. Ihre Neugier siegte und so machte sie sich auf zur Quelle des Rauchs.

*

Sie hielt vor der Ansammlung an Häusern. Der Traum beschrieb sie als Unterkünfte aus  alter Zeit. Einer Zeit, bevor das Land in die Tiefe gefallen war.
Doch hier standen sie nun. Einige Häuser, nicht groß, und zwischen ihnen gingen flügellose Kreaturen.
Thea beobachtete die Kreaturen. Sie ähnelten ihr, kein Zweifel. Doch waren ihre Arme und Beine kürzer, ihre Körper gedrungener und ihre Köpfe runder. Bei einigen erkannte sie kleinere Augen und schuppenlose, rosafarbene Haut.
Auch war ihr Haar geradezu bunt. Allesamt waren sie nicht weiß, Reinheit und Perfektion schien bei ihnen nicht wichtig zu sein.

Neben dem Dorf befand sich ein Wald. Hohe, dunkle Bäume mit kurzen, schmalen Blättern markierten den Übergang. Dahinter wurde er dichter und damit dunkler, schien bedrohlich vor der untergehenden Sonne aufzuragen.
Der Engel schüttelte den Kopf. Sie würde sich fernhalten, von der Dunkelheit des Waldes und ging weiter, betrat den Durchgang zwischen zwei Häusern und folgte ihm.

Der Weg führte sie auf einen breiteren Weg, dieser war ohne Vegetation und führte vom Anfang der Häuser bis zum Ende.
An den Seiten standen die Kreaturen, sprachen und arbeiteten - und hielten inne, sobald sie vorbeiging.
Thea spürte die Blicke. Sie stachen in ihrer Haut und nervös schüttelte sie ihre Flügel. Es war eine leichte, kaum merkliche Bewegung, doch das rascheln der Federn dröhnte geradezu in ihren Ohren.
Irgendwann mischten sich Worte unter das Rascheln. Worte der Kreaturen, die sie spielend verstand.
Engel sagten sie. Und unmöglich. Omen. Rettung. Geschenk. Gebete. Gefahr. Sie kannte die Bedeutungen der Worte und wäre gern stehengeblieben. Sie wollte den Kreaturen sagen, dass sie nicht gefährlich war. Dass sie keine Angst zu haben brauchten...

Es war eine winzige Kreatur, die sie zum Stehen brachte. Diese war kleiner als die anderen seiner Art, doch hatte es die gleichen Merkmale. Braunes, schulterlanges Haar fiel ihm über die Schultern und braune Augen sahen hoch. Die Kreatur musste den Kopf in den Nacken legen um sie anzusehen, denn sie ging ihr gerade zum Knie.
"Bist du ein Engel?", fragte die Kreatur und Thea sah sich unsicher um. Die größeren schwiegen wieder und die Geflügelte konnte hören, wie das Gras vor den Häusern wuchs.

"Ich... denke schon. Ich bin Thea.", brach sie die Stille und lächelte. Die kleine Kreatur quietschte und machte einen Satz zurück.
"Du hast ja Monsterzähne."
"Monsterzähne? Was meinst du?"
Die Kreatur kicherte. "Na, du hast Zähne wie das Monster aus den Geschichten. Ganz spitz und scharf. Nicht so wie ich." Sie grinste nun. Kleine, gerade Zähne füllten ihren Mund.

"Oh. Dann tut es mir leid, sollte ich dich erschreckt haben." Wie automatisch griff sie nach einer schneeweißen Haarsträhne und drehte sie zwischen den Fingern. "Aber ich werde dir sicher nichts tun. Versprochen."
Die Kreatur nickte. "Das glaub ich dir. Ich bin Marya und meine Mama ist Laya. Das ist die da." Marya zeigte auf eine der Kreaturen.
Ein langer Stoff bedeckte ihren Körper, braun wie die Erde und etwas heller als ihr Haar. Sie war dünn, im Gesicht erkannte man die Knochen. Kaum war sie bei ihnen packte sie die kleine Kreatur bei den Schultern, schüttelte stumm den Kopf und zog sie ein Stück weg.

"Du sollst doch nicht weglaufen.", flüsterte Laya und sah kurz zu Thea. "Du kennst ihn doch nicht."
"Es ist eine Frau, Mama. Und sie heißt Thea. Sie tut mir nichts, ehrlich.", erwiderte die Kleine und Laya sah wieder zu der Geflügelten.
"Das stimmt. Ich tue ihr nichts." Thea streckte ihr die Hand hin. "Meine Name ist Thea. Ich bin nur auf der Suche nach einem Platz für die Nacht."

THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt