Zwei Tage lebte Thea nun schon unter Layas Dach und hatte viel über die Menschen gelernt. Doch diese Nacht wurde sie gestört.
"Ich kann sie nicht wecken. Sie ist mein Gast.", drang Layas Stimme leise aber energisch zu ihr. Thea öffnete die Augen, das Zimmer war noch unverändert, doch von draußen waren dumpfe Töne zu vernehmen.
"Bitte. Versteht doch. Wenn ich sie wecke, wird sie uns verfluchen."
Thea schüttelte den Kopf und strich über die Zöpfe, die Marya ihr am Tag ordentlich gebunden hatte. Eine Veränderung, die der Traum niemals gutheißen würde.
Sie wandte den Kopf zur Tür, erhob sich und trat ans Fenster. Der Anblick, der sich ihr bot, erschreckte sie. Unter dem Fenster tummelten sich Menschen. Sie drängten zum Haus, während entfernt Schreie zu hören waren und Flammen in den Himmel schlugen, während sie die Häuser des Dorfes fraßen. Einzig ihre guten Augen und der fast direkte Weg durch den Wald erlaubten ihr diese Einsicht.Sofort eilte sie zur Tür und riss sie auf. Marya stolperte vor ihre Füße und Laya sah erschrocken zu ihr auf. Doch beide würdigte sie nur eines kurzen Blickes. Mehr Interesse weckten die Menschen, die den schmalen Gang verstopften und plötzlich verstummt waren. Sie sahen ungepflegt aus und trugen teils einen glasigen Blick. Es schien, als seien sie eilig aufgebrochen - und es waren fast ausschließlich Männer.
"Laya, was ist los?", brach der Engel die Stille und die Frau nickte schnell, richtete sich das dünne Kleid und senkte den Blick.
"Das Dorf... Banditen haben es überfallen. Sie ersuchen Eure Hilfe, Thea. Doch... ich wollte Euch nicht wecken. Ihr hattet..."
"Schon gut.", brach sie ab. Nocheinmal sah sie auf die Menschen, dann nahm sie das Mädchen und seine Mutter bei der Hand und zog sie in des Zimmer.
Erst hinter verschlossener Tür flüsterte Thea: "So gern ich es täte: ich kann nicht kämpfen. Es widerspricht unserer Natur, eine Waffe zu führen und Leben zu nehmen, wenn es nicht unserer Nahrung dient. Und warum sind da draußen eigentlich nur Männer?""Ihr könnt nicht..." Laya legte die Hand an ihre Brust. "Dann sind wir verloren. Sie werden auch zu uns kommen und..."
"Laya. Beruhige dich." Sie nahm ihre Hände. "Beantworte mir die Frage. Ich will wissen, ob sie es verdient hätten."
Die Frau nickte, starrte sie jedoch aus ängstlichen, großen Augen an. "Die Frauen und Kinder... sie waren zu langsam... sagen sie. Aber... sie wollten sie nicht retten... glaube ich... Die Männer... sie sind wertvoller für den... Wiederaufbau..." Sie schluchzte und Tränen benetzten ihre Augen, bevor sie über ihre Wangen liefen.Thea schwieg. Die Männer waren egoistisch. Sie retteten sich und überließen die Frauen den Angreifern. Ihr wollte die Logik nicht in den Sinn kommen. Doch nun hatte sie zumindest ihre Antwort.
"Laya. Ich werde diese Männer nicht retten. Sie sind egoistisch und nur auf ihr eigenes Wohl bedacht. Doch dich und Marya will ich retten. Ihr habt eine Verstoßene aufgenommen ohne etwas zu erwarten." Thea lächelte. "Dafür muss ich mich erkenntlich zeigen. Es ist der Anstand, der es mir gebietet."
Laya nickte stumm, beinahe schien es, als würde sie die Entscheidung des Engels verstehen. "Danke... Thea...", schluchzte sie und senkte wieder den Kopf. "Aber... die anderen... Alten, Frauen und... Kinder... Was ist mit ihnen?"
"Ich kann nichts tun.", wiederholte sie. "Nichts, um ihnen zu helfen. Ich kann nicht kämpfen und beherrsche keine Magie. Doch zwei Leben retten, das ist mir möglich.""LAYA!" Jemand trommelte gehen die Tür. "Kommt raus da! Helft uns! Engel!" Die Stimme wurde lauter und Thea ließ die Hände der Frau los. Ein Schritt trennte sie von der Tür. Weitere Schläge gegen das Holz waren zu hören.
"Ich werde es ihnen sagen, Thea. Und dann werden sie mich aus Wut töten.", sagte sie leise. "Nehmt Marya mit Euch. Sie soll leben." Traurig sah sie zu dem Mädchen, das schnell zu ihr rannte und ihre Beine umarmte.
"Nein, Mami. Du sollst nicht gehen." Das Mädchen schluchzte und es brach Thea das Herz, sie so zu sehen. Doch Layas Gefühle trügten nicht. Sie wünschte sich Sicherheit für ihr Kind und war fest entschlossen, sich selbst zu opfern, wenn es nötig war.
"Verzeih mir, Marya, meine Kleine.", flüsterte sie und war in die Hocke gegangen, um das Kind ebenfalls zu halten. "Aber so ist es gut. Der Engel bringt dich fort und du bist in Sicherheit..."
"Nein, Mami. Nein, ich will nicht!" Das Schluchzen wurde von der Stimme des Mädchens übertönt. Sie wurde höher, schrie oder kreischte fast."Ich hab dich lieb, Marya. Hörst du? Ich hab dich lieb. Und ich bin immer bei dir." Sie löste sich ein Stück und legte die Hand auf die Brust des Kindes. "Hier drin bin ich. Solange du an mich denkst. Und irgendwann, da hole ich dich ab, wo auch immer du bist. Und dann erzählst du mir von deinen Erlebnissen." Ihre Stimme wurde brüchig. Es fiel ihr schwer, noch klar zu sprechen.
"Deine Mama ist mutig, Marya.", sagte Thea und kniete sich hinter das Mädchen. Sanft zog sie sie an den Schultern zu sich und umarmte sie. "Sie ist mutig und hat keine Angst vor der Zukunft. Ich verspreche dir, Marya, du wirst sie wiedersehen. Eines Tages kommt sie und du wirst sie wieder umarmen können." Das Herz des Mädchens wurde langsamer, das Weinen leiser. Der Engel wusste nicht, wie es kam, doch noch störte es nicht.
Sie stand auf und zog das nun schlafende Kind mit sich.
"Danke.", hauchte die Frau und Thea trat zum Fenster. Es war groß genug, dass sie daraus fliehen konnte und sprang hinaus, nur Sekunden, bevor Laya die Tür des Zimmers öffnete.Die Schreie verstummten bald und die Flammen des Dorfes wichen einem blutroten Sonnenaufgang, der sich hinter ihnen erhob. Marya schlief in den Armen des Engels und diese fragte sich, ob sie wohl wirklich keine Magie beherrschte. Ob sie es doch tat und dies Marya in den Schlaf geschickt hatte.
Sie stieg höher in die Luft und ließ sich bald nur noch auf dem warmen Wind treiben mit einer einzigen Frage, die ihr wirklich wichtig erschien: Wohin sollte sie mit Marya nun gehen?
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THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]
FantasyIn einer Kultur der Reinheit und Perfektion, wird falsches ausgesiebt. So passiert es Thea, die als einzige der Generation mit braunen Flügeln schlüpft. Verstoßen von ihrem Volk verlässt sie die fliegenden Inseln, auf der Suche nach einem neuen Lebe...