I-6

1 1 0
                                    

"Ein Wunder?" Sie war nicht sicher, was sie von dem Mann halten sollte. Weißes Haar bedeckte seinen Kopf und wuchs um seinen Mund. Die Falten fielen darunter kaum auf. Ein einfacher brauner Mantel, lag über den Schultern, schützte das weiße Hemd und die Hose. Die Füße steckten in zwei sehr einfachen, ledernen Schuhen.

"Natürlich ein Wunder." Der Mann, eben noch in gekrümmter Haltung, richtete sich auf. Trotzdem war er nur zweimal so groß wie das Mädchen. "Von Engeln habe ich immer nur gelesen und Bilder betrachten dürfen. Nun ist ein Wunder geschehen und es steht wahrhaftig einer vor mir."

Thea schwieg und sah auf das Haus. Der Bewohner war eindeutig ein Mensch, dunkelbraune Augen sahen unter dem weiß des Haares hervor. Er beherrschte, sollte er die Wahrheit sagen, die Kunst des Lesens. Laya konnte dies nicht und eigentlich sollte es auch eine Kunst sein, die nur die Engel beherrschten.
Ob sie ihm nur deswegen trauen konnte, war die eigentliche Frage, aufgeschoben jedoch durch den nahenden Sonnenuntergang.
"Ich weiß nicht, ob es ein Wunder ist.", winkte der Engel ab. "Doch meine Begleitung braucht dringend einen sicheren Ort." Sie tastete nach der Hand des Kindes. "Würdet Ihr uns für diese Nacht beherbergen?"

"Oh, aber natürlich. Einen Engel zu verärgern kann schlimme Folgen haben. Bitte." Der Alte trat zur Seite, krümmte sich ein Stück nach vorn und deutete auf die weit geöffnete Tür. "Seid meine Gäste."

"Ja!" Freudestrahlend rannte Marya an Thea und dem Mann vorbei und verschwand im inneren des Hauses. "Wo bleibst du denn?", drang ihre Stimme kurz darauf wieder heraus.
"Ich bin kein Feind, werter Engel.", versicherte der Mann. "Kinder lügen nicht, wusstet Ihr das?" Er schien zu lachen.
"Ich... bin mir nicht ganz sicher, was ich von Euch halten soll.", erklärte der Engel. "Ihr... verhaltet Euch anders..."

"Oh, nur keine Sorge. Ich mag ein Mensch sein, doch bin ich auch mit den alten Völkern vertraut. Das gesammelte Wissen der Jahrtausende befindet sich an diesem Ort. Ich erzähle Euch gerne mehr."
Sie schwieg und sah an dem Mann vorbei zur Tür. Diese schien groß genug, um die Flügel nicht zu behindern.
Dann spähte sie zum Himmel. Es wurde bald Abend und die Müdigkeit streckte ihre Finger nach ihr aus.
"Dann werde ich Eure Gastfreundschaft nicht ausschlagen." Thea lächelte. "Und was Ihr als alte Völker bezeichnet, wäre auch interessant zu erfahren."
"Dann bitte. Tretet ein."

Sie ging an ihm vorbei und bequem trat sie durch die hohe und breite Tür.
Das Haus, in das sie führte, hatte keinen großen Schein gemacht, aus der Luft gesehen.
Doch da der im Sockel breite Turm direkt anschloss öffnete sich ein weiter Raum vor ihr. Kleine Fenster ließen Licht herein, die meisten Schatten wurden jedoch durch kleine, schwebende Kugeln vertrieben, die unter der Decke hingen. Wie in Wellen, bewegten sie sich ganz langsam, einige sanken sogar ein Stück herab. Überall tauchten sie die Wände und den Boden in blaues Licht.

"Irrlichter.", erklärte der Alte und stellte sich neben den Engel. Er reichte ihr gerade bis zur Brust. "Sie haben sich irgendwann hier niedergelassen und sind gute Freunde geworden. Kommt bitte mit. Lasst mich Euch bewirten, bevor die Nacht hereinbricht."
Er setzte sich wieder in Bewegung. Langsam ging er und stützte sich an den Stab. Der Engel erinnerte sich, dass die Dorfbewohner auch ihre Alten zurückgelassen hatten. Waren sie ihnen vielleicht zu langsam?

"Setzt Euch." Der Mann deutete auf einen Tisch. Sechs Stühle waren darum verteilt. Er selbst ging weiter in den Raum hinein, zu einem Feuer über dem ein großer Topf hing.
Thea blieb jedoch noch einen Moment stehen. Der Tisch stand genau unter dem Turm, der sich über eine Treppe der Tür gegenüber erreichen ließ. Weitere Treppen führten in einer Spirale in die Höhe, immer vorbei an gewaltigen Regalen voller Bücher. Beleuchtet wurde auch der Turm von den Irrlichtern. Tausende mussten in diesem Turm leben.

"Die sind lustig. Schau mal." Der Engel wandte den Blick wieder nach unten. Marya drehte sich im Kreis, Irrlichter folgten der Bewegung und hüllten sie in ihr blaues Licht.
"Sehr schön." Sie lächelte und streckte die Hand aus. Eines der Lichter löste sich aus dem Tanz um das Mädchen und ließ sich auf den weißen Schuppen nieder. Nun konnte sie Wesen auch genauer betrachten.
Es schien nicht mehr zu sein, als eine Flamme. Blau und flüchtig, als genügte schon ein kurzer Windhauch, um das Wesen aus der Welt zu entfernen. Doch trotz der Flammengestalt war es nicht heiß. Warm, aber es versengte die Schuppen nicht - nicht, dass Feuer überhaupt eine Spur hinterließ.
Einen wirklichen Körper des Wesens konnte sie aber auch nicht ausmachen.
Vielleicht besitzt es keinen, überlegte der Engel, als das Irrlicht wieder zur Decke schwebte. Vielleicht sind sie nur die Flamme.

"Bitte, ihr müsst doch nicht stehen." Der Alte hatte drei braune Schüsseln auf den Tisch gestellt, vor einer saß er bereits. Feiner Dampf stieg aus dem Geschirr auf und ein wohliger Duft nach Pilzen verbreitete sich.
"Danke." Thea lächelte und setzte sich ebenfalls vor eine der Schüsseln.

Erst als sich auch Marya von den Irrlichtern loseisen konnte und zu ihnen gesellte wurde der Engel ruhiger.
Hier schienen sie wirklich für einen Moment keine Sorgen zu haben.

THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt