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Schnell flog der dünne Stift über die Seite, hinterließ Spuren feiner Linien, die sich zu Worten fügten.
Thea gegenüber saß Marya, den Blick konzentriert auf der eigenen Seite. Wesentlich langsamer als der Engel füllte auch sie Seite um Seite mit den filigranen Zeichen der Schrift.
"Du hast Talent.", lobte der Engel und holte ein zweites Buch hervor. Für jedes Volk hatte sie ein eigenes angelegt. Fünf Bücher, die sie mit dem Wissen aus den Unmengen an Büchern füllte, Texten und Zeichnungen, Skizzen und Notizen.
Es sollte ihr auf der Reise von Nutzen sein. So lernte sie schon grob etwas über die Völker - doch ewig konnte sie sich damit nicht aufhalten. Wenn sie die anderen Völker kennenlernen wollte, dann musste sie irgendwann zu ihnen gehen. Sie musste die leeren Seiten der Bücher mit eigenen Erfahrungen füllen.

"Danke." Marya sah auf und setzte den Stift ab. Gewundene Buchstaben wie Schlangen erhoben sich auf ihrem Papier. "Bei dir sieht das so leicht aus. Musstest du das lange üben, so wie ich?"
"Fast." Sie versetzte sich in den Traum zurück. In die Welt, die sie alles lehrte. Die Stimme, die sie stets umgeben hatte, während sie die Schriftzeichen in den Sand malte. Sie lobte und korrigierte. "Auch ich habe im Traum mein ganzes Leben geübt. Als ich geschlüpft bin konnte ich es."
Das Mädchen nickte. "Dann werde ich auch ganz fleißig üben. Und irgendwann bin ich so gut wie du."
"Tu das. Aber immer nur üben ist auch nicht gut." Thea griff über den Tisch und zog Maryas Blätter zu sich. "Du hast für heute genug gelernt. Geh raus und sieh mal nach deiner Mutter. Vielleicht kannst du ihr helfen."

Das Mädchen sprang lachend vom Stuhl und rannte aus dem Haus, ohne noch etwas zu Thea zu sagen. Die sah ihr nur lächelnd nach, bevor sie sich wieder ihren Studien zuwandte.
Dabei blieb ihr Blick an dem fünften ihrer Bücher hängen. Lediglich eine lange, schneeweiße Feder ragte unter dem Deckel hervor. Der Magier hatte sie ihr gegeben. Er hatte erzählt, dass dies das Geschenk des Wettstreiters der Engel war, als sich die Wege der sechs trennten.
Das fünfte Buch wäre also eigentlich für ihr eigenes Volk gedacht. Doch... wollte sie überhaupt wieder dorthin zurück. Selbst wenn es nur der Zweck des Studiums war, würde sie niemals geduldet werden. Geschweige denn, dass man sie akzeptierte.

Theoretisch zumindest, könnte sie alles hineinschreiben, was der Traum sie über die Geflügelten gelehrt hatte. Nur war es eben genauso, wie bei dem Wissen aus den Büchern. Es fehlten der direkte Kontakt und die eigenen Erfahrungen.
Dieses Buch würde sie nicht mit sich nehmen. Es war nicht mehr, als unnötiger Ballast. Ein Buch, dass sie nie benutzen würde.

"Du planst deine Reise." Der Magier war lautlos, jedoch nicht unbemerkt hinter sie getreten.
"Ja. Ich versuche eine Route zu finden." Sie räumte die Bücher von der Karte, die unter dem Stapel den Tisch bedeckte. "Ich möchte nach meinem Zwischenfall den Menschen möglichst aus dem Weg gehen." Mit den Finger fuhr sie quer über die Karte. Vom Turm des Magiers in den Nordosten. "Das nächste Volk wären die Nachtschwärmer, an den Bergen im Norden. Danach die Feen, Nauvia und..." Ihr Finger endete an der Küste des Landes. Dahinter lag eine kahle, braune Insel, getrennt vom Festland. Die einzige Vegetation bildete ein Baum, aus dem auch sie schlüpfte. "...Anima. Zumindest, wenn es einen Weg auf ihre Wüsteninsel gibt."
"Ein guter Weg." Der Mann setzte sich zu ihr. "Wann gedenkst du, dein eigenes Volk zu besuchen?"

"Die Engel wollen mich nicht.", winkte sie ab. "Ich kehre nicht zu ihnen zurück. Auch nicht für die Forschung."
"Nun, dies ist deine Entscheidung." Der Alte nickte und schob das leere Buch über die Karte zu ihr. "Nimm' es trotzdem mit. Vielleicht erfährst du noch mehr über die Welt. Dinge, die dieser Sammlung noch fehlen."

Nachdenklich betrachtete sie das Buch. Noch immer ragte die Feder daraus hervor. Auf diesen Gedanken war sie noch nicht gekommen, hatte es doch den Anschein, der Magier hätte über alles Aufzeichnungen.
Vielleicht gab es wirklich noch Dinge, über die niemand etwas wusste. Dinge, die noch niemand gesehen hatte.
"Ich werde es mir überlegen." Thea nahm die Feder aus den leeren Seiten und legte sie vor den Mann. "Trotzdem solltest du diese behalten. Ich brauche sie nicht."
Seine faltige Hand legte sich auf die Feder. "Deinen Wunsch werde ich nicht ablehnen.", sagte er. "Aber vergiss nicht, dich bei deinen Freundinnen zu verabschieden. Die Reise kann viele Jahre dauern."

"Ich habe nicht vor heute Nacht heimlich zu verschwinden. Dafür habe ich noch zu viel zu tun." Sie seufzte. "Außerdem fällt es mir schon so schwer genug sie hier zu lassen. Ich bete, dass niemand euch finden wird."
Der Mann lachte zur Antwort. "Nur keine Sorge, Thea. Diesen Ort finden nur ausgewählte und jene, die davon wissen. In den letzten Generationen der Magier wurde dieser Turm nie angegriffen - oder von Außenstehenden auch nur einmal gesehen."

"Mir genügt das Wissen um ihre Sicherheit." Thea spähte aus einem der kleinen Fenster. Trotz des Glases, dass die Natur verbog, erkannte sie Marya vor dem Haus. "Solange sie niemand findet und du sie hier akzeptierst habe ich keine Sorgen."

"Ein besorgter Engel bringt Unglück.", bestätigte der Magier, den Blick auf die Karte gerichtet. "Doch hoffe ich auch auf deine Rückkehr, wenn deine Reise ihr Ende gefunden hat. Ich möchte gerne von deinen Erlebnissen hören. Und das Kind freut sich mit Sicherheit auch über deine Geschichten."

"Ich werde auf jeden Fall zurückkehren." Der Engel lächelte. "Seien es die Geschichten oder die Sehnsucht, die mich treiben. Und dann werde ich deine Sammlung hoffentlich erweitern können."



THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt