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Sie sank in der Nähe eines kleinen Baches zwischen einzelnen Bäumen zu Boden. Die Sonne stand hoch am Himmel und das Dorf lag bereits weit hinter ihnen. Nichts an diesem Ort erinnerte an die hohen Flammen, die die Häuser verschlungen haben.
Marya legte sie auf dem weichen Gras ab, bevor sie sie zu ihr setzte.
Friedlich schlief das Kind, doch wenn sie aufwachte, würde sie zu ihrer Mutter wollen. Es war eine Ahnung, die der Engel hatte. 
"Soll ich dich in ein anderes Dorf bringen?", fragte sie die Schlafende. "Oder bleibst du bei mir? Ich bin es deiner Mutter doch schuldig, dass es dir gut geht."

Sie hob den Blick. Das Licht am Himmel spendete Wärme, worauf sie die Flügel ein Stück öffnete. Der Frieden des Waldstücks war herrlich. Der Engel genoss es und verdrängte die düsteren Gedanken der letzten Stunden. Inständig hoffte sie, der Frau sei nichts passiert. Sie betete stumm zum Traum, dass Laya unversehrt bliebe.
Ihre Vermutung über die Wirkung von Theas Flucht sollte sich einfach nicht bewahrheiten. Der Engel könnte mit diesem Wissen nicht mehr ungestört leben. Dafür hatte die Frau zu sehr angefangen, ihr etwas zu bedeuten.

"Mama."
Thea richtete ihren Blick auf Marya zurück. Sie blinzelte gegen das Licht, setzte sich langsam auf und rieb sich die Augen.
"Mama?", wiederholte sie, sah sich um. Ihr Blick hielt bei dem Engel. "Wo ist Mama?"
Thea schüttelte den Kopf. "Woran erinnerst du dich noch?"
Marya legte den Kopf schief. "Da waren die Leute aus dem Dorf. Die wollten Hilfe. Mama... wollte mit ihnen reden." Sie stoppte, schwieg einen Moment, dann verzog sie plötzlich ihr Gesicht.
"Mama. Mama.", schluchzte sie und vergrub das Gesicht in den Händen, zog die Beine an und weinte.
"Marya.", flüsterte der Engel legte den Arm um das Mädchen und zog es unter den Schutz der Flügel. Trauer war kein Gefühl das sie kannte oder verstand. Der Traum hatte sie nur wenige solcher Gefühle gelehrt. Dafür jedoch auch viel Wissen.

Die Sonne wanderte über den Himmel, hielt nicht für die beiden an, während Marya ihre Tränen fließen ließ. Es wurde bereits dunkel und Müdigkeit griff nach Theas Körper. Der Engel gähnte und hob den Kopf.
"Bist du müde?", fragte Marya, die das bemerkt hatte. Ihre Augen waren noch rot und geschwollen, vom Weinen, die Tränen jedoch versiegt.
"Ein wenig. Es war... ein langer Tag." Sie wich dem Blick des Kindes aus. "Was ist mit dir? Auch müde?"
Marya nickte leicht und lehnte den Kopf an Theas Arm. "Mama bestimmt auch..." Sie schloss die Augen und schluchzte leise.
"Ich pass auf dich auf, Kleine.", versprach der Engel und legte die Flügel als wärmende Schicht. "Wir können aber nicht ewig hierbleiben. Du brauchst die Menschen, einen sicheren Ort."
"Hm... Morgen..." Marya war schon fast eingeschlafen. Mit einem letzten Blick auf den dunkler werdenden Himmel folgte der Engel dem Mädchen.

* * * * *
"Thea...", flüsterte die schöne Stimme. Als der Engel die Augen aufschlug erblickte sie weiße Bäume, die einen schimmernden Stein umkreisten.
"Thea. Kind." Die Stimme schien aus dem Stein zu kommen, also stand sie auf und trat zu ihm.
"Du musst meine Bitte anhören. Kind." Verzweiflung schwang in der Stimme und Thea legte ihre Hand an den Stein. Ganz glatt war die Oberfläche unter ihren Fingern.
"Ich bitte dich, mich zu befreien. Die Völker zu versammeln und unsere Welt zu beschützen. Zwei Fehler stehen fünf Erfolgen gegenüber, doch die Fehler sind zu groß. Finde die Völker und schütze die Bäume. Thea..."
Der Engel schloss die Augen. Die Dringlichkeit war ihr verständlich. "Ich werde es versuchen, Mutter.", wusste sie instinktiv, wem diese Stimme gehörte. Dann fiel sie in unendliche Leere...
* * * * *

Sie wurde wach, kaum kletterten die ersten Sonnenstrahlen über den Himmel. Thea sah zu Marya, die noch ruhig schlief. In diesem Moment würde sie ihre Federn dafür geben, in die Träume des Kindes zu sehen. Ihr eigener Schlaf war wirr. Das Dorf ging wieder in Flammen auf, Marya und Laya schrien im Hilfe, während riesige Menschen aus Feuer ihnen folgten. Thea selbst war dazu verdammt zuzusehen. Weit über dem Dorf flog sie, konnte nicht absinken, denn die weißen Flügel hielten sie davon ab. Nur immer höher konnte sie steigen, die Menschen zurücklassen.

"Mama...", murmelte Marya, worauf eine verlorene Träne über ihre Wange rollte.
Der Engel seufzte, öffnete die Flügel und ließ das Licht auf die Schlafende fallen.
Das Mädchen rührte sich nicht, also legte sie es vorsichtig auf das weiche Gras und stand auf. Nur das dünne Kleid, das sie nachts trug, konnte kaum Wärme halten. Sie mussten schnell weiter und einen sicheren Ort finden. Wenn Marya krank wurde, konnte sie ihr nicht helfen. Der Traum hatte sie nichts darüber gelehrt.

Thea ging zum Bach und kniete sich ans Ufer. Sie wollte das Mädchen nicht verlieren, dafür brauchte sie Hilfe. Es brauchte Essen, Wasser und warme Kleidung im Gegensatz zu dem Engel. Kälte drang garnicht durch ihre Schuppen - nur wenn sie es zuließ.
So wie jetzt, als sie das kalte Wasser über ihre Hände fließen ließ. Es entspannte sie und vertrieb ein paar Sorgen. An Wasser würde es ihnen nicht mangeln.
Sie legte die Hände aneinander, formte sie zu einer Schale und trank etwas des geschöpften Nass. Vielleicht konnte sie im Wald essbare Beeren finden. Dieses Wissen zumindest, war ihr nicht fremd. Die Unterscheidung von Pflanzen fiel ihr leicht und das ein oder andere Tier konnte sie vielleicht auch fangen.

Lächelnd, neuen Mutes und gestärkt durch das Wasser erhob sie sich wieder und sah zu Marya. Sie hatte sich ein wenig gedreht und die Beine angezogen.
Thea trat zu ihr und legte eine Hand auf ihr Haar. "Ich suche dir etwas zu essen.", flüsterte sie. "Ich komme so schnell wie möglich zurück."
Marya nickte und entließ den Engel scheinbar.

Mit einem wachsamen Blick, der auf dem Mädchen ruhte trat sie rückwärts in den Wald, die Flügel eng angelegt. Die Bäume hielten einen großen Teil des Lichts ab, was nur wenigen Pflanzen am Boden genügte. Zu weiten Teilen war es braune Erde, die zwischen den engstehenden Bäumen lag.
Wenigstens einen kleinen Erfolg konnte der Engel für sich verbuchen, als kleine blaue Beeren an einem Strauch angestrahlt wurden. Sie wuchsen genau unter einem Loch im Blätterdach, angestrahlt von der Sonne und dadurch mit genug Licht um eine reiche Ernte zu tragen.
Froh über den Fund pflückte Thea sofort eine Handvoll der Blaubeeren.

THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt