[Erwachen]

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Die Kapsel knackte. Licht fiel durch die ersten Risse und erhellte die winzige Welt. Es traf auf die weiße Haut, mit kleinen, weißen Schuppen besetzt, die es sofort brachen.
Die Flüssigkeit drückte heraus, als Luft einströmte und das Wesen im Inneren den ersten Atemzug tat.
Es bewegte erst leicht seine Muskeln, dann hob es den Kopf, sah aus der umschlungenen Position auf und hob die Arme. Vorsichtig drückte es gegen die Wände der Kapsel. Sofort wurden die Risse länger, die Flüssigkeit lief schneller ab und ließ mehr Luft hinein.
Die Lungen füllten sich schneller und es drückte stärker gegen die Kapsel.

Sie brach auf und Thea fiel heraus. Weicher Boden war ihr erster Kontakt mit der Welt. Licht, das ihre Haut wärmte und trocknete der zweite.
Schwer atmend hob sie den Kopf und sah sich um. Vor sich erkannte sie den Rand der Welt, davor standen andere Engel. Weiße Haut funkelte im Licht und hob sich stark von den weißen Wolken ab. Grüne Augen wie Smaragde sahen sie neugierig und erwartungsvoll an.
Neben ihr fiel nun eine weitere aus der Kapsel. Thea hob den Kopf zum Himmel und erkannte den Baum, an dem die dünnen Schalen der Reifekapseln hingen. Jeder Engel wurde hier geboren. Lange hatte sie geträumt und die Welt dort kennengelernt. Nun war sie erwacht und mit ihr andere, deren Zeit gekommen war.
Glücklich stützte sie sich auf dem Boden ab, streckte die Beine durch und erhob sich. Sie lächelte die anderen an und breitete die Flügel aus. Strahlendes weiß sollte sich unter die anderen mischen - eigentlich.

*

Sie rannte und schlug mit den Flügeln, als der Rand näherkam. Schreie und Rufe verfolgten sie, schnelle Schritte der anderen, die sie jagten.
Reinheit und Perfektion wurde erwartet, das hatte sie im Traum gelernt. Jeder Engel war perfekt. Weiße Flügel, weiße Schuppen, grüne Augen. Ein Ideal, das Thea nie erfüllen konnte.

Auch der Traum wusste nicht, wie die Farben bestimmt wurden. Niemand hatte sich je darüber Gedanken gemacht, sodass es nie eine Lehre wurde. Es wurde einfach erwartet.
Doch Fehler gab es immer. Das hatten sie gelernt. Wer dem Ideal nicht entsprach wurde verflucht.

Sie wandte den Kopf um. Braune Federn versperrten ihr die Sicht auf die Verfolger und der Rand kam näher.
"Lasst mich fliegen...", bat sie stumm und erhöhte ihre Schrittlängen, wurde schneller. Sie bezweifelte, dass die Ahnen sie erhören würden, doch zu nutzen hatte sie die Flügel gelernt. Jeder Engel lernte das, egal welche Farbe er haben würde.
Nur wurden den anderen die Flügel immer gebrochen, bevor man sie über den Rand jagte. Sie war schneller gewesen, als die Masse und die Engel besaßen auch keine Waffen, mit denen sie sie noch verletzen konnten.

Der Rand kam näher. Fünf lange Schritte, schätzte sie und zählte.
"Fünf."
Warum nur war Perfektion derart wichtig? Warum wollte niemand herausfinden, wie die Farben entstanden?
"Vier."
Warum mussten die Fehler sterben? Reichte keine Verbannung?
"Drei."
Warum jagten sie die Fehler? Konnten sie nicht einfach sagen, der Fehler solle verschwinden?
"Zwei."
Warum hinterfragte niemand den Traum? Warum niemand die Regeln? Nur weil es das Wissen der Ahnen war?
"Eins."
Ihr Herzschlag fand seinen Höhepunkt, dann schien es für einen Moment zu stehen. Sie spannte die Muskeln ihrer Beine an und sprang. Die braunen Flügel ausgebreitet, die Arme nach vorne gestreckt. Sanfter Wind umspielte ihren Körper, sammelte sich unter den Federn und riss sie nach oben.

Nur kurz genoss sie die Ruhe, als der Wind in ihren Ohren pfiff, die Flügel sie auf der Luft gleiten ließen und für diesen Moment alle Fragen vergessen waren.
Dann folgte der erste Schlag, sie drückte die Luft nach hinten unten weg und stieg auf, während sie nach vorne flog.
Keinen Blick zurück riskierte sie, wollte die weißen Flügel im Licht der Sonne nicht sehen. Niemand würde ihr hierher folgen, denn dies war das Ende der fliegenden Inseln. Keiner im Traum hatte gewusst, was darunter lag oder dahinter. Sie würde die erste sein...

THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt