I-5

1 1 0
                                    

Marya war inzwischen aufgewacht, hatte sitzend aber brav auf den Engel gewartet.
Noch immer mit traurigem Blick zupfte sie Grashalme aus dem Boden und ließ sie unbeachtet fallen. Thea konnte nicht fühlen, wie sie. Sie war freiwillig fort von ihrem Volk, Marya hatte sie praktisch fortgerissen - und ihre Mutter den wütenden Dorfbewohnern überlassen.
"Frühstück." Thea versuchte mit Fröhlichkeit ihre eigenen Sorgen zu überspielen und ließ sich neben das Mädchen ins Gras sinken. "Ich hoffe es schmeckt. Trotzdem müssen wir beide einen sicheren Platz finden."

Marya sah auf die Beeren und ein kleines Lächeln drängte sich über die Trauer. "Sind das Blaubeeren?" Sie nahm eine aus der geöffneten Hand und schnupperte daran.
"Ja. Soviel weiß ich über Pflanzen." Thea lachte leise, während Marya die Beeren verschlang. Verständlich, immerhin hatte sie zwei Tage nichts zu essen.
"Fillft fu auf faf?", fragte sie mit dem Mund voller Beeren. Der Engel lachte wieder und schüttelte den Kopf. "Ich hatte schon was. Bedien dich nur." Dass sie nur von ein paar Schlucken Wasser sprach, musste die Kleine ja nicht wissen.

"Puh." Marya ließ sich lachend ins Gras fallen. "Das war lecker."
"Freut mich." Thea stand auf und sah in den Himmel. Viel Zeit war nicht vergangen. Wenn sie sofort losflogen, konnten sie vor dem Abend vielleicht noch ein Dorf finden. "Wollen wir jetzt weiter? Ich weiß nicht, ob man uns vielleicht folgt."
"Wer folgt uns?" Beinahe panisch setzte das Mädchen sich auf und sah sich um.
"Hoffentlich niemand.", versuchte der Engel sie zu beruhigen. "Aber die Dorfbewohner waren schon sehr wütend. Vielleicht suchen sie uns."
"Und... Mama?"
Thea nickte. "Sie hat es vielleicht geschafft." Mit diesem Satz nahm eine Idee in Theas Kopf Gestalt an. "Wenn du sicher bist fliege ich zurück. Ich werde nach ihr suchen und wenn ich sie finde, nehme ich sie mit." Sie reichte Marya die Hand. "Versprochen."
"Versprochen." Marya nahm die Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Sie schien den möglichen Verlust ihrer Mutter langsam zu verarbeiten.

"Und wohin gehen wir?", fragte sie weiter, hielt sich an der Hand der Größeren fest.
"Ich denke, wir fliegen einfach weiter. Geradeaus zur aufgehenden Sonne. Wenn wir etwas finden, dann gehen wir dorthin."
Marya nickte eifrig und Thea kniete sich, etwas nach vorn gebeugt auf den Boden. Die Flügel streckte sie weit zu den Seiten hin aus. "Kletter' auf meinen Rücken und halt dich gut fest. Aber keine Feder auszupfen."
Das Mädchen lachte vergnügt und folgte ihrer Anweisung. Die Beine hatte sie vor den Flügeln und die Arme um ihren Hals geschlungen. "Bin fertig.", trällerte sie, worauf Thea die Flügel streckte. Mit einem letzten "Abflug!" stieß sie sich ab und erreichte mit wenigen Flügelschlägen die Wipfel der Bäume, dann die doppelte Höhe. Von da ab ließ sie sich treiben, korrigierte die Höhe mit nur wenigen Schlägen und ließ das Grasmeer unter sich.

* * * * *

"Schau mal!", quietschte Marya während des frühen Nachmittags. "Da ist ein Turm. Sollen wir da landen?"
Thea sah das Bauwerk ebenfalls. Ein hoher, leicht krummer Turm aus grauem Stein. Die Spitze war mit einem roten Dach bedeckt, während um den Sockel wohl ein einzelnes Haus gebaut war. Goldenes Stroh bedeckte das ebenfalls steinerne Haus.
"Denkst da wohnt jemand?", antwortete der Engel und ließ sich ein wenig sinken. Der Turm erhob sich aus der Ebene, nur eine niedrige Mauer umzäunte das Gebilde, jedoch wieder aus Stein und sehr weitläufig.
Bei näherer Betrachtung wurde die Frage nach einem Bewohner überflüssig. Auf Weiden standen verschiedene Nutztiere, die sich nicht vom sich nähernden Engel stören ließen.
"Bestimmt. Das kommt Rauch raus."
Auch Thea erkannte bald die dünne Rauchsäule, musste ihre Richtung jedoch ein wenig verändern, da sie vor dem Turm verschwand.
"Und? Wollen wir landen und nachsehen?" Noch behielten sie die Höhe bei, hatten den Turm aber auch noch nicht erreicht.
"Ja. Da wohnen bestimmt nette Leute." Marya kicherte und lehnte sich nach vorn. Sofort war Theas Balance zerstört.
"Marya nicht!", rief sie, geriet ins trudeln und kam nicht mehr in gerade Position. Sie stürzten ab, Thea schaffte es trotzdem den Sturz minimal auszugleichen. Statt wie ein Stein nach unten zu fallen drehte sie enge Kurzen, hielt sich in der Luft und wurde langsamer.

Erschöpft ließ sie sich vor der Tür des Hauses ins Gras sinken, während Hühner um sie herumliefen. Trotz ihrer Anwesenheit schienen die Tiere sie zu ignorieren, dabei sollten sie doch eigentlich panisch durcheinander rennen. Oder war ein Engel ihnen etwa nicht fremd?
Erst als Marya lachend zu ihnen lief gackerten sie los und suchten das Weite.
"Geh nicht zu weit!", rief der Engel und erhob sich wieder. Ein kurzer Blick genügte, um dunkle Flecken auf den Schuppen festzustellen. Auch zwischen einigen Federn klebte Erde, die bei der Landung aufgewirbelt wurde, was durch die ähnliche Farbe jedoch kaum auffiel.

Sie seufzte und wischte die Flecken ab. Ein wenig Eitelkeit behielt sie bei, auch wenn kein anderer Engel sie dazu ermahnen konnte. Jetzt nicht mehr.
"Bist du verletzt?" Marya hielt ein Huhn auf den Armen das laut gackerte. Fast schien es um Hilfe zu rufen, die anderen Tiere kamen jedoch nicht.
"Nein, schon gut. Nur Erde." Lächelnd kniete sie sich hin. "Aber das nächste Mal nicht die Balance stören. Sonst verletzt du dich noch." Spielerisch ermahnend tippte sie ihr auf die Nase. Das Mädchen lachte, ließ das Huhn frei, das eilig floh, und hielt sich die Hände vor das Gesicht.
"Entschuldige.", kicherte Marya. "Aber ich wollte doch einfach mehr sehen."
"Das hättest du auch, wenn wir langsam gelandet wären." Thea schüttelte den Kopf. "Zum Glück bin ich dir nicht böse."

"Oh, ein Wunder!", unterbrach eine raue Stimme die beiden. Erschrocken drehte Thea sich in die entsprechende Richtung und erblickte einen alten Mann.

THEA - Der Traum der Göttin [Teil 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt