Kapitel 39

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Es blieb nicht bei diesem einen Mal in dieser Nacht und so wachten wir erst auf, als jemand an unserer Zimmertür klopfte. Brummelnd drehte ich mich zu Emma in der Hoffnung sie wäre wacher als ich und würde an die Tür gehen. Fehlanzeige. Sie schlief genauso wie ich bis vor drei Sekunden auch. Entgegen meiner Hoffnung verstummte das Klopfen nicht, eher im Gegenteil, es wurde lauter und häufiger. „Ist ja gut", brummelte ich, zog mir eine Boxershorts über und öffnete völlig zerzaust die Tür. 

Amelie stand davor und musterte mich von oben bis unten. Ich meine ein kurzes Grinsen vernommen zu haben, aber sie wurde direkt wieder ernst. „Moin. Wir müssen in ner Stunde auschecken, es ist kurz vor 2", sagte sie und bemühte sich mir nicht zu lange auf die Shorts zu starren. „Okay", erwiderte ich gähnend und schloss die Tür vor ihrer Nase wieder. Ich ließ mich wieder neben Emma ins Bett fallen, ich war eindeutig noch nicht in der Lage aufzustehen. Ich musste echt nochmal voll eingepennt sein, denn als ich das nächste Mal wach wurde, fühlte ich mich wie gerädert. 

„Wincent...Babe...", vernahm ich irgendwo in der Ferne Emmas Stimme. Langsam öffnete ich ein Auge und erkannte sie über mir. Ich blinzelte ein paar Mal, bis meine Sicht aufklarte. „Babe?", versuchte ich zu scherzen, aber meine Stimme klang heiser. „Anders biste ja nicht wach zu kriegen", verteidigte sich Emma lachend. Ich griff nach ihrer Hand und zog sie in meine Arme. „Ist doch süß...auch wenn niemand meinen Namen so schön sagen kann wie du, habe ich kein Problem mit einem Kosenamen", murmelte ich. „Du bist so ein Idiot", lachte Emma und versuchte sich aus meinem Griff zu lösen, aber dafür war sie leider viel zu schwach. Ich presste sie auf den Rücken und schob mich über sie. Sanft lächelte sie mich an, nachdem ich sie küsste.

 „Amelie hat schon dreimal angerufen...und außerdem brauchst du erstmal Eiweißnachschub nach der letzten Nacht", scherzte sie und rollte sich unter mir durch. Tatsächlich meldete sich auch sofort mein Magen zu Wort, Eiweißreserven auffüllen klang nach keinem schlechten Plan. In Windeseile verschwanden wir im Bad und standen so fast pünktlich- nicht- eine knappe halbe Stunde später vor der Tür. Amelie war sichtlich angenervt, aber heute konnte mir keiner was. 

Bevor wir uns am Abend auf den Weg in die nächste Stadt machen würden, hatten wir den restlichen Tag noch frei. Da wir uns alle gemeinsam nicht auf ein Lokal einigen konnten, ging ich mit Emma Burger essen, während die Anderen einen Italiener aufsuchten. Als wir uns so gegenüber saßen, kam mir erst in den Sinn, dass wir noch nie zusammen essen waren und urplötzlich fühlte es sich ganz schön nach Date an. 

„Es ist kein Date", meinte Emma und griff über den Tisch nach meiner Hand. Genau, diese Geste war so gar nicht Date-mäßig. Ich hatte so einen Kohldampf, weil Emma mich echt leer gepumpt hatte in der Nacht, dass ich meinen Burger mit samt den Pommes innerhalb von drei Sekunde inhalierte. Emma kämpfte mit ihrem schon eine Weile und zu meinem Glück gab sie sich geschlagen und überließ mir den Rest. Ich war so voll gefressen, dass ich eigentlich direkt wieder ins Bett könnte. Aber bis der Bus losfuhr, würde es noch locker zwei Stunden dauern. 

„Dann lass uns doch noch n bisschen durch Bremen schlendern", meinte Emma, als wir wieder vor dem Laden standen. Das Wetter war schön, keine Frage, aber es blieb das Restrisiko, dass uns jemand sehen könnte. 

„Was ist, wenn uns jemand sieht?", fragte ich sie deshalb. Emma sah mich an und lächelte. 

„Ist mir egal. Und wir müssen ja nicht Händchen haltend und knutschend durch den Park gehen", erwiderte sie. Auch wenn ich es mochte, dass sie alles so leicht sah, konnte ich nicht einschätzen, ob sie das volle Ausmaß ihrer Entscheidungen begriff. Ob sie wusste, dass, wenn es ein Foto von uns geben wird, dieses einmal durch das ganze Internet gejagt werden würde. Dass es Klatschblätter gibt, die darüber berichten würden, dass ich mit einer Frau unterwegs bin, die weder meine Mutter noch meine Schwester war. Aber vielleicht mussten wir diesen Weg gehen, um rauszufinden, was passieren würde. Letztendlich wäre die Sache ja auch leicht zu bereinigen, Emma ist nicht meine Freundin und darauf wird es den Leuten ankommen. 

Tatsächlich hatte ich die ganze Zeit mit Emma nicht das Gefühl, dass wir auffallen würden. Ich hörte kein Getuschel, kein Kameraklicken und kein Gekreische. Ich hörte nur Emma, wie sie über Gott und die Welt redete, über Linda, über ihre gemeinsame Kindheit und manchmal auch eine kurze Sequenz über ihre Mum. Ich hing an ihren Lippen. Aber scheinbar tat ich das mehr unterbewusst, denn als sie mich was fragte, hatte ich keine Ahnung was gerade Thema war. 

„Sorry, was?", machte ich und musste zugeben, dass ich inhaltlich nicht zugehört hatte. Wir setzten uns im Park auf eine Bank und beobachteten die Enten auf dem kleinen See. „Ich hab gemeint, erzähl doch mal was von dir. Ich red hier ununterbrochen und dabei weiß ich eigentlich gar nichts von dir", sagte sie. Wo sollte ich da nur anfangen? Ich entschied mich einfach von vorne anzufangen und erzählte Emma von meiner wunderschönen Kindheit auf dem Dorf, von Marco, von meinen Großeltern und auch, dass sich mein Vater verpisste, als meine Mum noch schwanger war. 

„Mein Vater war auch so einer", warf Emma ein und wir rollten beide mit den Augen. Ob uns ein Vater fehlte? Sicher nicht. „Auch wenn er mir nichts beigebracht hat, hab ich doch was von ihm gelernt...nämlich dass ich nie so werde, wie er. Wenn ich mal Kinder habe, und das geht mit der Mutter auseinander, werde ich trotzdem für sie da sein", sagte ich und mittlerweile ist das ein Teil von mir, mit dem ich leben kann. Ich habe keinen Vater und fertig. Und trotzdem hat es mir nie an irgendetwas gefehlt. 

„Ich schätze ich habe mich nur so in die Beziehung mit Simon reingehängt, weil ich nach dem Tod meiner Mum niemanden hatte. Ich dachte, wenn ich sowas wie meine eigenen Familie hätte, würde ich besser damit klarkommen. Aber eigentlich war das Quatsch. Linda und ihre Mum sind meine Familie, das waren sie immer und das werden sie immer sein", meinte Emma. Wieder versuchte ich mir vorzustellen, wie es ihr wohl gegangen sein muss, aber die Vorstellung ging nicht in mein Hirn. 

„Und jetzt hab ich ja dich. Das ist so viel einfacher als jede Beziehung", lachte sie. Wie Recht sie hatte. Nach meinem Beziehungschaos war ich gerade auch einfach nur froh, sowas Lockeres und Entspanntes mit Emma zu haben. Sie merkte wohl, dass ich kurz an meine Verflossene dachte. 

„Wenn du irgendwann nochmal über sie reden willst...ich bin für dich da", meinte sie und sah vor uns in den kleinen See. Ich lächelte und sah zu ihr rüber und musterte sie. Sie trug ein weißes adidas-Shirt, eine helle Jeansshorts und meine Cap auf dem Kopf. Völlig unspektakulär sollte man meinen, aber für mich perfekt. 

Womit hatte ich das eigentlich verdient? So eine verständnisvolle, witzige und zudem wahnsinnig heiße beste Freundin zu haben?

Nicht mit dir und nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt