Kapitel 50

1.5K 60 12
                                    

Der Weg zum Bahnhof verging zügig und so saß ich keine halbe Stunde nach dem heftigen Streit mit Wincent im Zug nach Hause. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und suchte mein Lieblingsalbum von System of a Down raus. Mir war egal, dass ich wahrscheinlich das ganze Abteil mit ‚Chop Suey' beschallte, aber ich brauchte das gerade. Auch wenn mich ausgerechnet dieser Song so krass an Wincent erinnerte. An unseren ersten Morgen, als er mich nach Hause gefahren hatte. An alles, was danach kam. Er war der Inbegriff von diesem Song. Die Tränen liefen nur so über meine Wangen. Jeder, der an mir vorbei lief, schaute mich mitleidig an, aber es setzte sich zum Glück niemand zu mir. Ich wollte mich einfach nur selbst bemitleiden. Dass ich mich mal wieder nicht im Griff hatte und alles kaputt gemacht hatte. Wincent rief kein einziges Mal auf dieser dreistündigen Zugfahrt an, dafür Amelie umso öfter, aber die drückte ich jedes Mal weg. Ich wollte mit niemandem reden. Mit niemandem außer mit Linda. Morgen oder so. Kurz bevor ich in Eutin ankam, schrieb ich ihr.

E: Liebes, ich bin doch schon zurück. Aber ich will nicht darüber reden, zumindest heute nicht. Kannst du morgen vorbeikommen und Carlos mitbringen?

L: Passt 10 Uhr zum Frühstück? Falls du noch was brauchst, meld dich.

E: Passt. Danke.

Ich musste ein kleines bisschen lächeln. Sie wusste, wann es besser war nicht weiter nachzufragen. Sie war meine beste Freundin und sie kannte mich in und auswendig. Und deshalb erkannte sie all das, was mich gerade mit voller Wucht ins Gesicht traf, schon vor Wochen, ach fast Monaten. Ich musste mir eingestehen, dass sie wohl Recht hatte. Als der Zug hielt, schulterte ich meinen Rucksack und verließ den Bahnhof. Dass ich davor ausgerechnet Marco in die Arme laufen würde, hatte ich so nicht erwartet. 

„Hey, nicht so stürmisch", lachte er mich an, aber sein Lächeln schwand schnell, als er meinen finsteren Blick sah. „Was ist denn mit dir passiert?", fragte er mich und wollte mich in den Arm nehmen. „Dein bester Freund ist mir passiert", antwortete ich knapp und wollte mich schon aus seinem Griff befreien, aber als ich das so sagte, kamen mir schon wieder die Tränen. Er vergrub mich in einer Umarmung und das tat mir gerade so gut. Ich drückte mich fest an seine Brust und obwohl ich das nicht wollte, schluchzte ich bitterlich. Marco legte seinen Kopf auf meinem ab und strich mir immer wieder über den Kopf. Langsam beruhigte ich mich. Ich konnte ja unmöglich noch Tränenflüssigkeit in meinen Augen haben. 

Seine Hände lagen an meinen Wangen, als ich meinen Blick hob und ihn ansah. Er sah mich an, wie Wincent mich so oft angesehen hatte, und ich wusste nicht, was mich in dem Moment geritten hatte. Aber ich hielt den Atem an und konnte mich keinen Millimeter von ihm wegbewegen. Er strich mir über die Wangen und hielt mich noch immer fest. Ich sah Wincent vor mir und unsere Blicke verfingen sich ineinander. Aber zum Glück war wenigstens Marco bei klarem Verstand und ließ mich los. Er lächelte mich an. 

„Willst du darüber reden?", fragte er. Ich schüttelte mit dem Kopf. Nein, sicher nicht. Sicher nicht mit ihm. „Falls doch, melde dich", sagte er und ich spürte, dass er weiterziehen musste. Ich lächelte ihn schwach an und nickte. „Und Emma...er hat das sicher nicht so gemeint. Er ist manchmal ein Idiot", meinte Marco noch und ließ mich dann stehen. Wollten mich heute eigentlich alle verarschen? Aber mit einer Sache hatte Marco Recht, Wincent war ein Idiot. 

Auch wenn die Gefahr groß war, dass ich auf meinem Weg zu meiner Wohnung noch diversen anderen Bekannten über den Weg laufen könnte, ging ich die paar Minuten durch Eutin. Ich brauchte das zum Runterkommen und zum Sortieren. Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf, in der ich wegen Wincent fast acht lange Wochen nicht geschlafen hatte, und verzog mich direkt in mein Bett. Ich rollte mich wie ein Embryo zusammen und obwohl ich eben noch dachte, dass das nicht mehr möglich wäre, heulte ich wieder. Stundenlang. Bis ich irgendwann mitten in der Nacht aufwachte. Ich lag immer noch in meinen Klamotten in meinem Bett. Aber mein Handy klingelte und das war der Grund für mein Aufwachen. ‚Wincent' stand auf dem Display. Sicher nicht, du Arsch! Ich drückte ihn weg und stellte mein Handy auf stumm. 

Obwohl es mitten in der Nacht war, entschied ich mich für eine kalte Dusche. Ich musste raus aus diesen Klamotten, die so nach Wincent rochen. Tatsächlich fühlte ich mich danach zumindest ein kleines bisschen weniger scheiße und fand schnell in den Schlaf. Dass ich nur Stuss träumte, war anzunehmen. Schon immer hatte ich all meine Erlebnisse in meinen Träumen verarbeitet. Denn wenigstens in meinem Traum hatte ich den Mut mit ihm abzurechnen und ihm eine zu kleben. Die hätte er in der Realität auch wahrlich verdient gehabt.

 Als ich aufwachte, war es gerade acht Uhr und ich hatte noch zwei Stunden Zeit bis Linda kam. Ich entschied mich eine Runde Joggen zu gehen, das war etwas, was in den letzten Wochen echt auf der Strecke blieb. Über meine AirPods wurde ich wieder mit den lautesten Tönen beschallt, die System of a Down zu bieten hatte, aber ich wollte nichts anderes hören. Erst als ich eine Stunde später wieder bei mir Zuhause ankam und die Stöpsel aus meinen Ohren nahm, dröhnten die noch immer. Wie nach einem richtig guten Konzert. Konzert. Du warst auf einigen in den letzten Wochen, sprach meine innere Stimme zu mir. Du verdammtes Hirn, was soll die Scheiße?

Nicht mit dir und nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt