Wütend

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Ich lehnte mit der Stirn gegen das kalte Fenster über meinem Bett. Der Vollmond streckte seine weißen Finger langsam über die Baumkronen des dunklen Waldes und der Fuchs in mir jaulte voller Sehnsucht.
"Ich halte das nicht aus, Eva."

Meine Mitbewohnerin rutschte aufgekratzt auf ihrem Bett herum. "Du wirst es lernen. So wie wir es alle gelernt haben."
Ich warf ihr einen finsteren Blick über die Schulter zu. "Und wenn ich es nicht lernen will?!"
"Dann wird das Alpharudel es dich lehren!", keifte sie gereizt zurück.

Sofort bereute ich meinen Ausbruch. Eva hatte wirklich Angst vor dem, was heute Nacht in diesem Wald passieren würde. "Es tut mir Leid. Ich verstehe einfach nicht... ich meine... Ich bin nur hier, weil meine Eltern meinten, dass das hier unser Safespace ist. Ein Ort, an dem wir Formwandler endlich hundertprozentig wir sein können. Und jetzt ist mein erster Vollmond an dieser Schule und ich sitze hier, in diesem Zimmer eingefangen wie ein Zootier! Wie kann diese Schule sich Safespace nennen, wenn ich in der Menschenwelt so viel freier war?"

Darauf kannte Eva keine Antwort. Im Gegensatz zu mir war sie in einer Wohngegend mit ausschließlich Formwandlern aufgewachsen, ehe sie an diese Schule gekommen war. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Freiheit ich erlebt hatte und nun so schrecklich vermisste.

Als Uhu hätte sie gut und gerne auch Teil des Alpharudels sein können, wenn ihre Eltern nicht unterschiedliche Vögel gewesen wären. Sie war ein Raubtier und die meisten Tiere hier ließen sie in Ruhe. Für sie war eine Nacht in Gefangenschaft ein akzeptabler Preis für ihre sonstigen Privilegien.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung auf dem dunklen Rasen. Eva musste meine Reaktion bemerkt haben, denn kaum erkannte ich, was da unten war, stand sie auch schon neben mir, ihre Hand fest auf meiner Schulter.

"Bleib hier", beschwor sie mich, doch meine Entscheidung war längst gefallen.
"Warum ist er da unten alleine?" Nathan hatte unser Wohnheim verlassen und trottete lässig und sorglos in Richtung Wald.
"Bleibst du hier, wenn ich es dir sage?"
"Nein." Eva war zu schlau. Ich würde sie beleidigen, wenn ich log.
Seufzend gab sie auf. "Er ist der Letzte, der den Wald betreten darf. Es gibt im Rudel eine Rangordnung. Das verhindert auch, dass sie sich aus Versehen gegenseitig angreifen. Jenna, Kyle und Helena sind bereits vor Stunden aufgebrochen. Getrennt natürlich."

Nun hielt ich doch inne. "Warum sollten sie sich angreifen?"
"Na wenn die Instinkte einsetzen, meine ich. Wenn das Tier übernimmt." Als ich sie noch immer verunsichert ansah, rückte Eva ihre Brille zurecht und musterte mich mit erstaunen. "Du hast das nicht."

Ich schüttelte den Kopf. "Nicht mehr, nein." Als Kind hatte ich oft Probleme damit gehabt, dass die Füchsin in mir die Kontrolle übernommen hatte. Aber in einer Gegend voller Menschen war das ein echtes Problem. Ich hatte Monate mit meinen Eltern trainiert, jeden Sommer in den Wäldern die vorgetäuschten Wanderurlaube zum Üben genutzt.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte dem mächtigen Alpharudel etwas voraus. Aus meiner für sie verachtenswerten Herkunft hatte ich zwingend etwas lernen müssen, dass ihnen allen fehlte.

Kontrolle.

Das erklärte auch, warum hier alle so lange brauchten, um sich vollständig zurück zu verwandeln.

Ich packte mit beiden Händen Evas Gesicht und drückte ihr übermütig einen Kuss auf die Stirn. Vor Schreck ließ sie mich los. "Ich habe einen Plan. Ich verspreche, ich komm heile zurück." Bevor sie mich aufhalten konnte war ich schon hinaus gelaufen, die Treppe hinunter und raus in die nächtliche Kälte.

Nathan hatte nicht damit gerechnet, das jemand auf die schwachsinnige Idee kommen würde, ihm in einer Vollmondnacht zu folgen, deshalb war es einfach, seine Fährte aufzunehmen. Nach nur wenigen Metern hatte ich ihn schon eingeholt. Auch wenn ich nur einen schemenhaften Umriss unter den Schatten der Bäume sehen konnte, erkannte ich ihn sofort am Geruch.

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