Kapitel 6 - Über den Tellerrand

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Nach einer etwas gehetzten heißen Dusche stand Helin im Badezimmer und putzte sich mit der einen Hand die Zähne, während die andere den Zauberstab auf ihren Kopf gerichtet hielt und mit einem Strom warmer Luft ihr Haar trocknete. Eigentlich hatte Helin sie gar nicht waschen wollen, aber nachdem unter der Dusche einige Grashalme aus dem Zopf hinunter auf ihre nackten Zehen gefallen waren, hatte sie sich dann doch umentschieden. Das allerdings nahm natürlich ein wenig mehr Zeit in Anspruch als geplant und so wurde die letzte halbe Stunde vor dem Frühstück noch einmal zu einem ganz klassischen Chaos. Egal; Helin kannte solche Eile zur genüge, auch wenn sie Stress am Morgen normaler Weise zu meiden versuchte. Wenn sie irgend etwas in der Aurorenausbildung gelernt hatte, dann war es Effizienz. Und dazu gehörte eben auch, dafür zu sorgen, dass die hochgeschlossenen Stiefel sich von selbst schnürten, während sie (den Zauberstab zwischen den Zähnen) das widerspenstige kastanienbraune Haar hinter dem Kopf zu einem schlichten Zopf flocht und bereits zurück in ihr Zimmer schritt, um sich den Umhang überzuwerfen. Der Blick in den Spiegel war knapp ausgefallen- eigentlich nur um sicherzugehen, dass nicht doch noch irgendwo Erde in ihrem Gesicht klebte.
Zehn nach sieben verließ Helin zügigen Schrittes ihr Büro und wandte sich recht zielsicher nach links in Richtung der Treppen. Nachdem sie bis dahin auch noch problemlos gekommen war, wurde es nun jedoch schwierig; denn die Treppe, die sie erwischte, weigerte sich partout, den Weg hinunter in den ersten Stock freizugeben. Helin brauchte eine ganze Weile, um an einer günstigen Stelle die Stufen zu verlassen und es dann mit einem waghalsigen Umweg zu versuchen, der sie glücklicher Weise nicht vollständig in die Irre leitete.
Sie hatte Hunger...und sie konnte sehr ungemütlich werden, wenn das auch über längere Zeit so blieb. Fünf vor halb acht eilte die junge Aurorin endlich die erfreulich unbewegliche Marmortreppe hinab in die Eingangshalle und durch die offene Tür dem Frühstückslärm entgegen.
Wie auch am Abend zuvor mit Minerva hielt sie sich an der äußeren Wand, während sie sich ihren Weg zum Lehrertisch suchte und wurde dabei nur mäßig mit neugierigen Blicken bedacht. Die meisten Schüler starrten noch trübe in ihre Tassen oder kauten verschlafen an einem Stück Toast herum. Helin, die bereits seit einer ganzen Weile auf den Beinen war, hatte ihnen einiges an Elan voraus und der Duft von Rührei und gebratenem Speck beflügelte ihre Schritte noch ein wenig mehr.

An der Tafel hatte sich die Sitzordnung ein wenig geändert, sodass Helin an diesem Morgen zwischen Rolanda und Quirinus Platz fand- der Lehrerin für den Flugunterricht und dem Professor für Muggelkunde. "Guten Morgen!" grüßte sie recht schwungvoll und lächelte in die Runde, was nur teilweise erwidert wurde. Quirrel warf nach einem kurzen aber freundlichen Gruß immer wieder ungeduldige Blicke zur Decke und Rolanda bestrich sich ausgiebig ein Brötchen mit Marmelade. "Sie sind recht spät." bemerkte sie, ohne dass es wirklich vorwurfsvoll geklungen hätte. "Aber sie sehen nicht aus, als ob sie verschlafen hätten." Ah...gute und klare Beobachtungsgabe, ohne wirklich hinsehen zu müssen. Helin vermerkte sich diesen Punkt in Gedanken für den Fall dass es einmal wichtig werden sollte und war zugleich kaum überrascht diese Eigenschaft ausgerechnet bei Madam Hooch festzustellen, die in ihrer ganzen Erscheinung irgendwie an einen Falken erinnerte.
"Das stimmt; verschlafen habe ich nicht." räumte Helin ein und goss sich Kaffee in die Tasse. "Aber der Morgen hat einige unverhoffte Überraschungen geboten...und ich hatte vergessen, wie störrisch diese verfluchten Treppen sein können."
Rolanda schmunzelte, was ihre scharfen Gesichtszüge gleich viel freundlicher aussehen ließ. Ein wenig wie bei Minerva, auch wenn die beiden Frauen in ihrer Ausstrahlung ansonsten recht verschieden waren. "Es ist schwer, daran zu denken, dass Sie das Schloss ja nicht aus Ihrer Schulzeit kennen. Oder zumindest kaum noch."
"Tja..." Helin zuckte die Achseln, während sie sich hungrig den Teller belud und zu essen begann. "...ich werde mich auch erst wieder daran gewöhnen müssen, mich bei jeder Gelegenheit verlaufen zu können. Aber immerhin haben sich meine Füße die Trickstufen gemerkt. Ich habe auf dem Weg hier herunter gerade eine übersprungen und mich im gleichen Moment fürchterlich erschreckt, weil ich nicht damit gerechnet hatte." sie lachte und wer von den näher sitzenden Lehrern das Gesagte aufschnappte, stimmte mit ein. Nur Quirinus wirkte ein wenig verlegen und wandte den Blick dann nach einem unsicheren Schmunzeln rasch wieder nach oben. Helin tat es ihm schließlich gleich und hörte nach einem weiteren Bissen Rührei schon die ersten Schreie der Posteulen, ehe deren gefiederte Silhouetten kurz darauf vor dem Abbild des hellen Himmels erschienen. Private Post erwartete die junge Aurorin nicht- ihr Habichtskauz war gleich in der Eulerei geblieben, nachdem er gestern die Notiz mit Helins Ankunftszeit dem Schulleiter überbracht hatte. Aber die Dagsavis ließ Helin sich dennoch weiterhin bringen, denn schließlich wollte sie zumindest ein wenig auf dem Laufenden bleiben, was zu Hause so los war.

Überall an den Schülertischen reckten sich Hände nach oben oder begann es zu klimpern, wenn die Eulen ladeten und dabei Teller oder Besteck unter sich begruben. Rolanda brachte rasch ihren Kaffee in Sicherheit und auch Helin schob eine der Schüsseln zur Seite, um den drei großen Vögeln Platz zu machen, die auf sie zuhielten. Eine Sumpfohreule hoppste zu Quirinus und stieß dabei unsanft gegen den Saftkrug, als die Schneeeule, die auf Helin zugeflogen kam, sie auf dem engen Landeplatz mit dem Flügel erwischte. Kurz hinter den beiden quetschte sich noch eine Schleiereule auf das freie Stückchen Tischtuch vor Rolanda und ließ ein zusammengerolltes Magazin aus dem Schnabel dort hin fallen, wo eben noch das Marmeladenbrötchen gelegen hatte. In den Krallen hielt sie eine weitere Zeitung und an ihrem Bein war ein kleines Beutelchen befestigt, in welches Hooch nun zwei kleine Münzen steckte.
Helin erkannte das Titelblatt des Tagespropheten wieder, denn davon lag auch ab und an ein Exemplar im Büro in Oslo herum, wenn es um Ermittlungsaufgaben ging. Auf dem anderen Magazin prangte in feurigen Lettern: Qualität für Quidditch - Monatsmagazin 12. Oktober 1989. Die Aurorin schmunzelte und nahm ihre eigene Zeitung entgegen. Sie bezahlte die Schneeeule und sah zu, wie diese sich kurz darauf wieder in die Lüfte schwang.
"I-ist das die n-norw-wegische V-version des T-t-tagespropheten?" fragte eine schüchterne Stimme zu ihrer Linken und Helin wandte den Kopf. Quirinus' Stottern war noch schlimmer als am Vorabend im Lehrerzimmer und er sah ihr nur ganz kurz in die Augen, ehe er dann rasch wieder auf ihre Zeitung schaute. Helin empfand aufrichtiges Mitgefühl für ihn. Er schien wirklich ein absolutes Opfer seiner Nerven zu sein und mit ihr- einer fast Fremden- zu sprechen, verlangte ihm offenbar einiges ab. Die Tatsache, dass er es dennoch tat, rechnete sie ihm allerdings hoch an- immerhin hätte er auch einfach schweigen können. Aber Helin meinte, aufrichtige Neugierde in seinem Blick zu erkennen, während er die Zeitung musterte. Mit einem ehrlichen Lächeln sah sie ihn an und hielt ihm die Dagsavis hin, damit er sie sich besser betrachten konnte. Auch Rolanda schaute interessier herüber.
"Ja, richtig. Ich will nicht alles, was in Norwegen passiert, von meinen Kollegen erfahren müssen- die werden es ohnehin schon ausnutzen, mich ein wenig ärgern zu können, wenn ich nach Informationen frage." Helin schmunzelte und beobachtete, wie Quirinus (scheinbar von seiner Neugier, die über die Unsicherheit triumphierte, getrieben), mit leicht zitternder Hand nach der Zeitung griff, um sie genauer zu studieren.
"D-d-das ist also N-n-norwegisch... Kein W-w-wort zu verstehen..." murmelte er und schlug fahrig die erste Seite um. Von dort blickte Helin breit grinsend ein wohlvertrautes Gesicht entgegen. "Ach herrje..." stieß sie aus und lehnte sich ein kleines Stück zur Seite, um die Schlagzeile darüber lesen zu können. Rasch ließ Quirrel die Dagsavis wieder in ihre Richtung wandern, als er es bemerkte. Sie fühlte seinen Blick von der Seite ihr Gesicht streifen. "W-w-wer ...ist das?" wollte er wissen und Helin meinte schon beinahe körperlich spüren zu können, wie jedes einzelne Wort einen gewaltigen Kampf für ihn bedeutete. Sie beschloss, sein nervöses Verhalten einfach zu behandeln, als ob es gar nicht da wäre.

Nachdem ihre Augen noch ein paar Sekunden länger über die Zeilen des Artikels gewandert waren, antwortete sie schließlich: "Das ist Anton Krafft. Seit den Zwanzigern ist so ziemlich jeder aus der Familie als Valp auffällig geworden. ...Anhänger der Ideologie Grindelwalds..." erklärte Helin rasch auf die fragenden Blicke von links und rechts. "Tja, ...er auch. Keine große Überraschung. Ist wahrscheinlich einer der größten Fanatiker, die heute noch frei herumlaufen. Völlig übergeschnappt...sieht man ja." sie lehnte sich mit einem unwilligen Seufzen in ihrem Stuhl zurück und winkte nachlässig in Richtung der Fotografie, die über dem Artikel prangte. Tatsächlich war das Gesicht des Mannes, der ihnen dort mit gebleckten Zähnen entgegen grinste, vom Wahnsinn deutlich gezeichnet. Die seltsam starren Augen mit den unterschiedlich großen Pupillen quollen leicht aus den Höhlen hervor. Er wirkte ausgemergelt und seltsam stumpf, was nicht nur an dem kurzen strähnigen Haar lag, welches platt in seiner Stirn klebte. Der kantige Kiefer, der zu den typischen Merkmalen der Familie gehörte, stach ungesund hervor und auf der rechten Seite fehlte ihm ein halbes Ohr. Der verbliebene Rest war zu einer verkrüppelten Wulst zusammengewachsen und wirkte eher wie ein Fremdkörper an dem seltsam eckigen Schädel. Die Lider des linken Auges zuckten unablässig und dunkle Flecken auf Unterlippe und Zähnen ließen auf dem schwarz-weiß Foto erahnen, dass dieser Mann dazu neigte, seinen eigenen Mund blutig zu beißen.
Helins Hunger hatte mit einem Mal einen ordentlichen Dämpfer erhalten. Sie legte den halb gegessenen Toast beiseite.

Gletschereis und FrühlingssonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt