Kapitel 10 - Angriff

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Eine Woche war seit jenem höchst unschönen Zusammentreffen mit dem Zaubertranklehrer vergangen und Helin hatte den hageren Mann seither kaum zu Gesicht bekommen. Sahen sie sich dennoch einmal kurz, wie zum Beispiel beim Essen, so mied er ihre Blicke, wie sie es schon kannte. Und trafen seine pechschwarzen Augen doch einmal auf ihre Goldbraunen, so stand in seinem Gesicht die pure Abscheu geschrieben.
Helin hatte sich in den vergangenen Tagen hauptsächlich darum bemüht, ihre Schüler auf die etwaige Gefahr vorzubereiten, die vom verbotenen Wald ausging. Hagrid war ihr in dem Bestreben, mehr Informationen zu sammeln, keine besonders große Hilfe gewesen, weshalb Helin versucht hatte, sich stattdessen an Silvanus zu wenden.
Dieser wusste zwar einige durchaus sinnvolle Ideen vorzutragen, wie sie es mithilfe von Schutzzaubern und magischen Fallen anstellen könnten, dass keines der eigentümlichen Wesen aufs Schlossgelände kam, doch von der praktischen Umsetzung waren sie, wie er zugab, noch meilenweit entfernt.
Die junge Aurorin hatte es einfach nicht fassen können, dass die bisherigen „Schutzmaßnahmen" schlichtweg nicht existierten und jegliches Ausbleiben von Angriffen daher reinem Glück und dem Gehorsam der Schüler geschuldet zu sein schien.
Für Helin blieb es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis entweder die Schüler die neue Vorschrift vergessen- oder in den Wind schlagen würden. Und auch mit ihrem eigenen Unterricht, oder dem, was sie den Kindern zu bieten hatte, war sie infolge dessen alles andere als zufrieden. Eigentlich hätten sie sich allmählich anderem Stoff widmen müssen, denn zumindest für die Fünft- und Siebtklässler standen Prüfungen bevor, die nicht von ihr, sondern vom Ministerium abgenommen werden würden.
Helin hatte versucht, sich Minerva und Septima anzuvertrauen und tatsächlich waren beide ganz ähnlicher Meinung wie sie. Viel tun konnten sie allerdings auch nicht, denn wie Minerva Helin noch einmal freundlicher Weise erinnerte, war Dumbledore derjenige, der entscheiden musste, wann ihm die Sache zu bunt wurde. Und dieser schien Silvanus und Hagrid noch eine gewisse Frist offen halten zu wollen, um selbst mit dem Problem fertig zu werden.
Die Fähigkeiten zur Selbstverteidigung der Schüler wurden dabei entweder außer Acht gelassen, oder man ging einfach ganz selbstverständlich davon aus, dass sie sich schon darum kümmern würde.
Nun, genau das hatte Helin auch vor- ja sie war sogar so fest entschlossen, ihre Klassen in die Lage zu versetzen, mit dieser Bedrohung zurecht zu kommen, dass sie nach einigem Hin und Her die Entscheidung traf, die Sache gänzlich selbst in die Hand zu nehmen.

Um gegen einen Feind anzukommen, muss man ihn kennen. Um einen geeigneten Verteidigungszauber auszuwählen, muss man wissen, wogegen man sich zur Wehr setzt.
Bisher wusste Helin von den Quintapi nichts außer dem, was auch Hagrid und Silvanus bekannt war. Und das wiederum war zugegebener Maßen allenfalls...überschaubar.
Die logische Schlussfolgerung blieb, dass sie diese Dinger sehen musste- direkt und aus der Nähe. Wie sie sich verhielten, wie sie aussahen und welche Schwachstellen sie hatten, wie sie sich bewegten und was ihre gefährlichsten Eigenschaften waren.
Am Abend des vierundzwanzigsten Oktober saß Helin also in ihrem Büro und wartete auf die Dunkelheit. Wenn die Quintapi kein Licht mochten, dann würden sie in der Nacht sicher aktiver sein als am Tag...oder sie würde sie schlafend auffinden- vorausgesetzt, dass dies überhaupt geschah. Der verbotene Wald war riesig und weder Silvanus noch der Wildhüter hatten eine konkrete Vorstellung gehabt, in welcher Richtung sich das Rudel aufhalten könnte.

Kurz nach halb elf fühlte sich Helin schließlich sicher genug, auf den Fluren nicht mehr mit irgendwelchen Schülern zusammenzustoßen. Sie verschloss ihr Büro und machte sich auf den Weg hinaus in die Nacht.
Die Luft war kalt und frostig, so wie schon seit Tagen. Feuchtigkeit legte sich auf Haar und Kleider, ließ sie schwer werden und sog einem rasch die Wärme aus dem Körper. Dennoch war es zweifellos ein schöner Anblick, wie der zunehmende Halbmond hell über den Schlossgründen stand und die Umgebung in sein fahles Licht tauchte.
So leise wie möglich schloss Helin das schwere Eichenportal hinter sich und schritt entschlossen über die sanft abfallenden Wiesen in Richtung des Waldes, dessen dunkle Silhouette ein schwarzes Band auf den Ländereien zu bilden schien. In Hagrids Hütte brannte noch Licht und der Holzfeuerduft seines Kamins wehte hin und wieder hinüber zum Schloss. Helin lächelte, als sie sich die Behaglichkeit in der kleinen Hütte vorstellte, doch sie schlug einen Bogen ein, um nicht zu nahe heranzukommen und vielleicht Fang auf den Plan zu rufen.
Heute Nacht wollte sie nicht gesehen werden.
Dass dieser Vorsatz bereits scheiterte, noch ehe sie auch nur in die Nähe des Waldes gekommen war, konnte die Aurorin nicht ahnen...

Gletschereis und FrühlingssonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt