Kapitel 5 - Der Wildhüter

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Der nächste Morgen fand die junge Frau draußen auf den Ländereien vor. Ein frostiger Hauch lag in der Luft und es würde sicher nicht mehr lang dauern, ehe die Wiesen in der Früh mit Reif bedeckt wären.
Helins Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft während sie im lockeren Laufschritt durch das taufeuchten Gras zog. Sie lenkte ihren Weg am Waldrand entlang und hielt nach kleinen Hindernissen Ausschau. Der tägliche Frühsport hatte in der Aurorenausbildung begonnen und wenn man sich über fünf Jahre hinweg an etwas gewöhnte, führte man es danach zumeist ganz freiwillig fort. In Gjesvaer hatte Helin sich keine große Mühe geben müssen, um eine geeignete Rennstrecke zu finden. Die felsendurchzogene Insel bot hinreichende Möglichkeiten, um über kleine Spalten hinwegzusetzen oder an Gesteinsbrocken hinaufzuklettern. Hier jedoch war das Schlossgelände zwar weitläufig, aber bis auf die ansteigenden Hänge doch recht eben. Helin nahm sich vor, sich über die kommenden Tage ein paar Hindernisse aufzubauen, um das morgendliche Training ein wenig interessanter zu gestalten. In ein paar Wochen, wenn der Winter kam und der Schnee die Schlossgründe bedeckte, würde sie ihre Morgenroutine zwar ohnehin wieder mit der Schneeschippe in der Hand beginnen; im Moment jedoch war Helin ganz froh darüber, dies noch einmal ein wenig aufschieben zu können.

Draußen im Freien erinnerte sie sich auch wieder an die Beschaffenheit des Schlossgeländes. Der See, die Gewächshäuser, die Peitschende Weide (Helin machte einen weiten Bogen um den unheimlichen Baum), der Weg zum Quidditchfeld und die Hütte des Wildhüters. Diese lag noch im leichten Morgennebel, welcher sich vom Waldrand aus über die Wiesen zog und der gesamten Umgebung einen mystisch-schönen Anstrich verlieh. Rauch kringelte sich aus dem Schornstein und verstärkte den Holzfeuerduft des frühen Tages.
Helin hatte einen kurzen Spurt eingelegt, um ihren Herzschlag etwas in die Höhe zu treiben und passierte nun das kurzen Stück zwischen Hütte und Waldrand, als es mit einem Mal laut krachte. Ohne Vorwarnung flog eine Hintertür auf, von deren Existenz die Aurorin bis zu diesem Moment nicht einmal etwas geahnt hatte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich aus vollem Lauf zur Seite zu werfen, um nicht mit der massigen Gestalt zusammenzuprallen, die plötzlich direkt vor ihr auftauchte. Noch während Helin sich im nassen Gras abrollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine gespannte Armbrust in der Hand des Hünen. Durch den gewaltigen Schwung überschlug die junge Frau sich zweimal im Gras, ehe sie schließlich auf ein Knie aufgerichtet Halt fand, den Zauberstab jedoch bereits in der Hand und die Zauberformel im Kopf. Expelliarmus!
Es gab einen Knall, einen roten Lichtblitz und dem riesigen Kerl riss es mit solcher Wucht die Armbrust aus der Hand, dass sie an der Mauer hinter ihm zerschellte. "Eeey!" donnerte der Wildhüter- mehr überrascht als aufgebracht und sah sich verwirrt um. Zu Helins Verwunderung blickte er erst in die Richtung aus der sie gekommen war und dann zu ihr, wie sie sich keuchend aufrichtete und einen Schritt rückwärts stolperte. Ihr Herz raste viel heftiger als es durch den milden Frühsport gerechtfertigt gewesen wäre - was sich nicht gerade besserte, als ein lautes Kläffen aus der Hütte erklang und ein großer schwarzer Hund an seinem Herrn vorbei nach draußen zu drängen versuchte. Der Wildhüter versperrte ihm mit einem Bein den Weg und erleichtert stellte Helin fest, dass er keine Anstalten machte, sich auf sie zu stürzen. Sie war nicht sicher, ob sie ihn sich mit einem der Standard-Zauber hätte vom Leib halten können, denn Hagrid war noch viel gewaltiger, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Und das, obwohl sie ihn zuletzt aus der Perspektive einer Zweitklässlerin gesehen hatte.
"Was'n los?!" fragte er mit polternder Stimme- nun deutlich verwirrt und blickte zwischen Helin und den leeren Schlossgründen hin und her. "Gibt's Ärger? Wer verfolgt dich?" und er spähte in den Morgennebel, als erwarte er, dass dort jemand auftauchen würde.
Nun war es an Helin, die ihre Fassung noch nichts ganz wiedergewonnen hatte, irritiert zu sein und sie ließ sogar den Zauberstab ein Stück sinken. "Was?! Verfolgen? Niemand verfolgt mich!" gab sie immernoch keuchend zurück "Aber Sie..." ihre Augen wanderten von der zerbrochenen Armbrust zu Hagrids massigen Händen, die zu Fäusten geballt waren. Wahrscheinlich konnte er mit einem rechten Haken einen ausgewachsenen Bullen niederstrecken- von einem Menschen ganz zu schweigen. Helin schluckte, dann spürte sie den Blick des Hünen auf sich. Er verengte die Augen.
"Wart' mal ... Sie sind gar keine Schülerin! Un' auch kein Lehrer... Wer sind 'n Sie un' was ha'm Sie hier um die Zeit zu such'n?!" mit einem Mal wirkte der riesige Mann noch bedrohlicher, denn nun war sein Misstrauen geweckt und es richtete sich gegen Helin. Dieser dämmerte allmählich, was hier gerade geschah, und sie wich einen weiteren Schritt zurück, während sie sich beeilte, abwehrend die Hände zu heben. Den Zauberstab zwischen Daumen und Handfläche eingeklemmt und die Spitze zu Boden gerichtet.
"Alles in Ordnung!" sagte sie- ganz intuitiv die erlernte Deeskalationsfloskel nutzend, die banal wirken mochte, wenn man in der Ausbildung das erste Mal davon hörte. Doch spätestens bei der Anwendung in der Praxis musste jeder Aurorenanwärter erkennen, dass sie sich als äußerst effizient erwies. Sätze wie; 'ich bin kein Feind' oder 'keine Bedrohung' klangen in der Theorie meist sinnvoller, aber leider ging die Verneinung in angespannten Situationen viel zu schnell unter, was fatale Folgen haben konnte.
Helin wusste, dass ihre Worte ihr lediglich genug Zeit verschaffen würden, um weiter zu sprechen und die Chance verbesserten, angehört zu werden. Also fuhr sie rasch fort: "Ich bin die neue Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Helin Evenson. Wir sind uns noch nicht begegnet." nach wie vor ließ sie die Hände erhoben und rührte sich nicht, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie stelle eine Bedrohung dar. Aus der Hütte bellte es noch immer wie wild.
Hagrid starrte sie weiterhin misstrauisch an. "Soweit ich weiß, hat doch Professor Snape den Unterricht gemacht. Dumbledore hat noch nix von 'ner neu'n Lehrerin gesagt!"
Er war eindeutig noch nicht gewillt, ihr einfach zu glauben und Helin musste zugeben, dass es eine verflucht ungünstige Situation war, in der sie sich gerade befanden. Sie bemühte sich, trotz des nur langsam ruhiger werdenden Atems möglichst ruhig und deutlich zu sprechen: "Ich bin erst gestern nachmittag angekommen. Sie waren nicht beim Abendessen, also hatten wir noch keine Gelegenheit, einander vorgestellt zu werden." Da. Nun hatte sie ihn aus dem Konzept gebracht. Hagrids Mienenspiel war so deutlich zu lesen wie eine Werbetafel in der Londoner Innenstadt und Helin wartete mit in Gedanken gekreuzten Fingern ab, während sich erst Überraschung auf seinem Gesicht abzeichnete, ehe er offenbar kurz nachdachte. Die Aurorin hätte jede Wette darauf abgeschlossen, dass er den gestrigen Abend durchging und zu ihrer Erleichterung schien er zu dem Schluss zu kommen, dass er tatsächlich nicht beim Abendessen gewesen war und ihre Geschichte daher wohl stimmen konnte. Wie sie es gehofft hatte, entspannte sich die massige Gestalt des Wildhüters vor ihr ein wenig. Helin nutzte den Moment, um einen weiteren Versuch zu starten, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen:

Gletschereis und FrühlingssonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt