Kapitel 2 - Ankunft

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Nach dem Mittagessen begaben Lehrer und Schüler sich wieder in ihre Klassen. Wer das Glück einer Freistunde genießen konnte, nutzte die frühe Zeit des neuen Schuljahres, um diese noch mit einem Spaziergang über die Ländereien zu verbringen und die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen einzufangen, ehe die langen Regenperioden- und später der dichte Schneefall beginnen würden.
Minerva McGonagall machte sich kurz vor Vier auf den Weg über die Ländereien hinunter zum Tor, welches von zwei geflügelten Ebern flankiert wurde. Vor wenigen Wochen erst waren die Kutschen mit den Schülern hier herauf gekommen und man konnte noch deutlich die Wagenspuren in der weicheren Erde erkennen. Minerva hatte sich in einen warmen Umhang gehüllt und den schottengemusterten Schal um die Schultern geschlungen. Denn es bließ ein empfindlicher Wind heute, der von den bereits frostigen Temperaturen der Nächte kündete. Dennoch war es ein schöner Tag und die Oktobersonne sorgte dafür, dass man nicht allzu sehr ins Frieren geriet, solange man sich bewegte. Tatsächlich stellte Minerva fest, dass sie den Spaziergang genoss und sie fragte sich zugleich, warum sie sich dergleichen nicht viel häufiger gönnte.
Als die Verwandlungslehrerin sich dem hohen Tor näherte, war davor noch niemand zu sehen und McGonagall musste sich eingestehen, dass sie es versäumt hatte Dumbledore zu fragen, auf welchem Weg die neue Lehrerin denn anreisen würde. Wenn sie mit dem Zug oder per Flohpulver in Hogsmeade ankäme, könnte Minerva ihr auf der Landstraße durchaus noch ein Stück entgegen gehen. Sollte sie jedoch apparieren oder gar den Fahrenden Ritter benutzen...
Noch ehe McGonagall den Gedanken zuende führen konnte, ertönte ein vernehmlicher Knall und auf der Straße vor dem Tor erschien wie aus dem Nichts eine Gestalt mit zwei kleinen Koffern und einem leeren Eulenkäfig. Sie versuchte sich einen Augenblick lang offensichtlich verwirrt zu orientieren, dann wandte sie sich um und sah das Schloss ein Stück entfernt vor sich aufragen. Es dauerte einen Moment, ehe die Gestalt bemerkte, dass jemand mit zügigen Schritten näher kam und so trafen sich ihre Blicke erst, als Minerva das Tor schon beinahe erreicht hatte.
Die junge Frau auf der anderen Seite lächelte und kam die letzten Meter die Straße hinauf. Sie trug einen langen Reisemantel und war nicht nur mit einem Schal-, sondern auch mit Mütze und Handschuhen angetan. Fest geschnürte lederne Stiefel, die ihr beinahe bis zu den Knien reichten lugten beim Gehen zwischen den aufklaffenden Mantelschößen hervor.

"Guten Tag." begrüßte Minerva sie, während sie mit einer kurzen Berührung ihres Zauberstabs das Schloss klicken ließ und die dicken Eisenketten sich rasselnd zurückzogen. Das Tor schwang auf und die junge Frau stellte hastig ihre Koffer ab, um einen Handschuh abzustreifen und Minervas ausgestreckte Hand zu ergreifen. "Sie müssen Miss Evenson sein. Die neue Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste?"
Die junge Frau nickte und lächelte erneut- ein wenig zurückhaltend - während sie die dargebotene Hand schüttelte. Ihr Griff jedoch war fest und selbstsicher.
"Das ist richtig. Ich freue mich auf die Zeit in Hogwarts. Auch wenn...ich das Wetter in Schottland ein wenig falsch eingeschätzt habe." ihr Blick wanderte hinauf zum blauen Himmel über den nur hin und wieder ein paar bauschige weiße Wolken schwebten und aus dem fröhlich die Sonne herab strahlte. Sie nutzte den Augenblick, um sich des anderen Handschuhs, ihrer Mütze und sogar des Schals rasch zu entledigen. Minerva schenkte ihr ein schmales Lächeln, während die grünen Augen sie kritisch musterten.
"Mein Name ist Minerva McGonagall. Ich bin die stellvertretende Schulleiterin und unterrichte im Fach Verwandlung." der Blick der neuen Kollegin hellte sich auf und ihr Lächeln wurde breiter. "Dann habe ich mich also doch nicht geirrt! Sie waren meine Hauslehrerin im ersten und zweiten Schuljahr in Gryffindor." Minerva stutzte...dann verlor auch ihr Gesicht etwas von der distanzierten, förmlichen Strenge. Allerdings suchte sie in den Zügen der jungen Frau vergeblich nach vetrauten Anzeichen. Diese schien ihr Zögern zu bemerken und winkte ab. "Keine Sorge, ich erwarte nicht, dass irgendjemand hier sich an mich erinnert. Ich glaube, ich bin nie groß aufgefallen und es gibt schließlich eine Menge Schüler, die Sie hier haben." sie sagte es mit einer solchen Leichtigkeit und schlichten Ehrlichkeit, dass Minerva ihr einfach glauben musste, dass es ihr tatsächlich nichts ausmachte, nicht wiedererkannt zu werden. Und mit einer einladenden Geste trat sie beiseite, um die neue Kollegin eintreten zu lassen.
"An der Besetzung des Hauslehrers für Gryffindor hat sich seitdem nichts geändert, wie Sie feststellen werden. Sicher werden Ihnen auch noch einige andere Lehrkräfte bekannt sein. Es gibt jedoch auch den ein oder anderen Neuzugang seit Ihrer Schulzeit."
"Da bin ich sicher. Ich muss gestehen, es ist viel aufregender, wieder hier zu sein, als ich dachte. Jetzt da ich Hogwarts wirklich vor mir sehe. Oh...vielen Dank." Minerva hatte mit einem Schnippen ihres Zauberstabs die beiden Koffer und den Eulenkäfig in die Luft gehoben, sodass sie nun vor ihnen her schwebten, während sie gemeinsam den Weg zum Schloss hinauf schlenderten. Hinter ihnen schloss sich das schwere Eisentor mit einem neuerlichen Rasseln der Ketten und versiegelte sich von selbst.
"Gibt es noch diesen...Wildhüter, der damals hier war, Professor McGonagall? Der Große...ich weiß seinen Namen nicht mehr..."
"Rubeus Hagrid. Ja, er ist seinem Posten treu geblieben- ich glaube auch nicht, dass ihn irgend etwas von dort fort holen könnte. Aber..." sie warf der jungen Frau über ihre Brillengläser hinweg einen Blick zu "...nennen Sie mich Minerva. Sie sind nun nicht mehr meine Schülerin, sondern eine Kollegin." ein ungewohnt freundliches Lächeln trat auf die Lippen der Verwandlungslehrerin. Die neue Professorin strahlte zurück. "Helin..." erwiderte sie "...ich freue mich darauf, Ihre Kollegin zu sein, Minerva..." und im Gehen reichte sie der älteren Frau noch einmal die Hand.

"Wie kommt es eigentlich, dass Sie sich mit all diesen Sachen beladen haben?" fragte McGonagall einige Minuten später etwas irritiert, als sie gemeinsam die Eingangshalle betraten und Helin sogleich einen Kampf mit ihrem warmen Mantel begann, um sich daraus zu befreien. Zugleich versuchte sie Mütze, Schal und Handschuhe nicht fallen zu lassen und bekam augenblicklich Farbe auf ihrem blassen Gesicht. Die junge Frau blickte auf und hängte sich die Winterkluft über den Arm, darunter kam noch ein weiterer warmer Umhang zum Vorschein. Sie hob leicht die Schultern.
"Auf den Lofoten schippen wir schon seit zwei Wochen den Schnee von unseren Dächern. Dort geht man besser nicht mehr ohne Handschuhe aus dem Haus."
Minervas Brauen hoben sich über ihrer eckigen Brille. "Auf den bitte was?"
"Den Lofoten. Eine Inselgruppe ein Stück nördlich vom norwegischen Festland." erklärte Helin bereitwillig und plötzliches Verständnis zeichnete sich auf McGonagalls Gesicht ab. "Sie kommen aus Norwegen! Das hat der Schulleiter bisher mit keinem Wort erwähnt. Wie kommt es dann, dass Sie in Hogwarts zur Schule gegangen sind?"
Inzwischen hatten sie sich auf den Weg quer durch die Eingangshalle- und hinüber zu der breiten Marmortreppe gemacht, die nach oben führte. Die beiden Frauen wurden allmählich warm miteinander und das Gespräch entspann sich auf natürliche, ungezwungene Art und Weise.
"Ich bin in England geboren. Aber die Wurzeln der Familie liegen in Norwegen. Ich glaube, meine Urgroßeltern sind damals als Auroren nach Staffordshire gekommen und dort sesshaft geworden. Als ich vierzehn war, haben meine Eltern beschlossen, das vererbte Grundstück in Gjesvaer wieder zu beziehen. Also habe ich meine Ausbildung in Norwegen weitergeführt. Dass ich irgendwann als Lehrerin noch einmal hierher kommen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht."
Sie ließ den Blick umher schweifen, wie viele der Erstklässler, die die hohen Decken und die sich bewegenden Gemälde an den Wänden noch nie gesehen hatten. Und doch waren hier und da kleine Momente des Wiedererkennens deutlich auf Helins Gesicht zu beobachten.
"Bedeutet das, sie kommen aus einer Aurorenfamilie?" fragte Minerva, während sie Helin um die Ecke in einen Korridor führte, in dem gedämpfte Stimmen aus den Klassenzimmern zu ihnen drangen.
"Hmm...mehr oder weniger. Nicht alle sind Auroren aber es hat in jeder Generation mindestens einen gegeben. Bei meinen Eltern ist es mein Vater, meine Mutter arbeitet als Fluchbrecherin und ich habe mich wiederum für die Ausbildung zur Einsatzaurorin entschieden. Meine jüngere Schwester versucht sich ebenfalls darin, aber ich glaube, sie wird früher oder später zu den Kryptologen wechseln."
"Sie werden feststellen, dass man Ihnen hier im Kollegium etwas...skeptisch begegnen könnte, wenn man von Ihrem Beruf erfährt." warnte Minerva mit gedämpfter Stimme und einem ernsten Blick vor.
Helin sah sie verständnislos an und runzelte die Stirn. "Wie kommen Sie darauf?"
"Nun, der Beruf ist gemeinhin hoch angesehen bei uns- vor allem seit alles daran gesetzt wird, die letzten verbliebenen Todesser zu stellen. Aber die Auroren arbeiten in erster Linie für das Ministerium und dieses ist mit Hogwarts...schon seit einiger Zeit immer wieder in einem etwas...gespannten Verhältnis."
Helin musterte die andere Lehrerin einen Moment nachdenklich, dann nickte sie langsam. "Ich verstehe. Sie meinen also, dass es an gewissen...Befindlichkeiten rühren könnte. Auch wenn ich nicht dem englischen Zaubereiministerium unterstellt bin..." es war eine Feststellung, keine Frage und Minerva nickte lediglich zur Antwort.
"Danke, dass Sie mich vorgewarnt haben. Damit lässt sich gewiss unnötigen Missverständnissen vorbeugen." als Helin lächelte, wirkte es wieder so offen und unbeschwert wie zuvor. Auch wenn sie vor wenigen Sekunden noch mit der Wachsamkeit eines Falken dreingeblickt hatte.
Minerva legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter.
"Lassen Sie uns über solche Dinge nicht zu sehr nachgrübeln. Ich werde Ihnen nun erst einmal Ihr Büro zeigen, damit Sie all diese Sachen loswerden. Anschließend sollte genug Zeit für einen kleinen Rundgang im Schloss sein, ehe es Abendessen gibt. Danach versammelt sich das Kollegium im Lehrerzimmer, um Sie auf Hogwarts willkommen zu heißen. Also machen Sie sich darauf gefasst, dass sie noch reichlich mit Fragen gelöchert werden."
Helin lachte und das Geräusch erfüllte den zugigen Korridor für einen Moment mit einer Erinnerung an blühende Wiesen und schmelzende Gletscher.
"Ich kann nicht behaupten dass ich damit nicht gerechnet hätte. Aber es ist gut, sich noch einmal mit Gewissheit darauf einstellen zu können."

Gletschereis und FrühlingssonneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt