Manchmal bereute Scarlett ihre Entscheidung, sich einen Hund angeschafft zu haben, zutiefst. Heute war ein solcher Tag.
Das lag nicht an dem Tier an sich - Pammy war so lieb wie eh und je, ignorierte Konsequent sämtliche anderen Hunde, denen sie unterwegs begegneten, und konzentrierte sich vollkommen darauf, ihre Geschäfte zu erledigen.
Das Problem war das beschissene Wetter.
Natürlich war es normal im Oktober, dass es regnete, windig war und kühl, doch als Scarlett um kurz nach sechs ihre Wohnung verlassen hatte und vor die Tür getreten war hatte sie kurz Angst gehabt, dass die kleine Terrierhündin von den sturmartigen Böhen mitgerissen werden könnte.
Nun, das war nicht passiert - dafür waren sie beide nach wenigen Minuten bereits komplett durchnässt.
„Komm schon, Pammy", murmelte Scarlett und zerrte leicht an der Leine, was Pammy jedoch ebenso wenig zu beeindrucken schien wie dieses Dreckswetter. Obwohl ihr kurzes struppiges Fell bereits vollkommen durchnässt war nahm die Hündin das keinesfalls als Anlass, von dem Baum abzulassen den sie bereits seit einer Weile ausgiebig beschnüffelte.
Allmählich reichte es Scarlett. Sie war normalerweise wirklich geduldig, gerade, wenn es um ihren kleinen Liebling ging, doch heute war sie ohnehin bereits irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden, nach einer Nacht, in der sie nicht sonderlich gut geschlafen hatte, und der Regen gab ihr nun den Rest.
„Komm jetzt", forderte sie ein weiteres Mal, diesmal mit weitaus strengerer Stimme, und als Pammy es immer noch nicht über sich brachte, sich von dem scheinbar ausgesprochen interessanten Baum zu lösen, beugte sich Scarlett kurzerhand zu ihr herunter und nahm sie auf den Arm.
Auf das empörte Blaffen der Hündin erwiderte sie nur: „Wir waren jetzt wirklich lang genug draußen! Da kommt schon gar nichts mehr, und gekackt hast du auch. Also ab nach Hause jetzt!"
Weitere Proteste erfolgten nicht, Pammy schien keine großen Schwierigkeiten damit zu haben, den Heimweg anzutreten. Vermutlich freute sie sich sogar darüber, getragen zu werden.
Scarlett war froh, dass der Weg nach Hause nicht mehr weit war, die zwölf Kilo des Terriers wurden erstaunlich schnell erstaunlich schwer.
Sie schloss die Haustür auf, wobei sie Pammy weiterhin auf den Arm behielt, ließ sie erst runter, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und die Treppe hinter sich gebracht hatte, die in den ersten Stock und damit zu ihrer Wohnung führte.
Dort setzte sie die Hündin ab, löste die Leine und machte sich selbst daran, den Schlüssel aus ihrer Manteltasche zu kramen.
Nie zuvor hatte Pammy irgendetwas getan, das in Scarlett den Gedanken hätte aufkommen lassen, dass sie das besser nicht getan hätte.
Pammy hörte aufs Wort. Die meisten anderen Lebewesen, ob Menschen oder Tiere, waren ihr gleichgültig, sie interessierte sich nicht sonderlich für Spielzeuge oder Autos, für eigentlich nichts außer ihrer Besitzerin.
Nun jedoch war Pammy abgelenkt.
Sie tippelte ein Stück von Scarlett weg, die davon zunächst nichts mitbekam, streckte die Schnauze in die Luft und schnupperte.
Es war kein Essensgeruch, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, genau genommen war es gar nichts, was sie bereits zuvor einmal irgendwann gerochen hatte.
Möglicherweise war es der Teil des Jagdhundes in ihr, der so empfindlich auf diesen seltsamen, metallischen Geruch reagierte, der Teil, der ihren Vorfahren bei der Jagd dabei geholfen hatte, verwundete Tiere aufzuspüren.
Die Hündin wusste natürlich nicht, was sie so faszinierte. Sie wusste nur, dass sie wissen wollte, was dieser Geruch war. Und warum die Tür der Wohnung, aus der er kam, nur angelehnt war...
Scarlett bemerkte erst, dass Pammy sich davongemacht hatte, als sie ein paar Meter weiter den Flur entlang eine Tür quietschen hörte. Gerade hatte sie es nach einer gefühlten Ewigkeit geschafft, den Schlüssel endlich ins Schloss zu stecken, doch nun ließ sie ihn los, starrte einen Augenblick lang perplex auf die Tür, die Pammy soeben aufgestoßen hatte, bevor sie dem Tier mit langen Schritten folgte.
„Pammy", rief sie dabei. „Was soll das? Komm hier her! Aber sofort!"
Die Hündin reagierte nicht, und rückblickend betrachtet war Scarlett sich sicher, dass das der Moment gewesen war, in dem sie begonnen hatte, sich unwohl zu fühlen.
Irgendetwas konnte nicht stimmen. Noch nie zuvor hatte Pammy sich so verhalten.
Zudem war es ebenfalls merkwürdig, dass die Nelsons, in deren Wohnung die Hündin verschwunden war, ihre Tür nicht nur nicht abgeschlossen, sondern offenbar lediglich angelehnt gehabt hatten. Dies hier war keine Gegend, in der man so etwas tat.
„Pammy, verdammt", zischte Scarlett. Vorsichtig zog sie die Haustür ein Stück weiter auf, um selbst hindurchgehen und sich so den Terrier hoffentlich schnell schnappen zu können, bevor er noch auf die Idee kam, irgendwelchen Schaden anzurichten. „Wenn du nicht sofo-"
Das Wort blieb ihr im Halse stecken. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte ihren Kopf auf einen Schlag leergefegt.
Die Haustür der Nelsons führte direkt ins Wohnzimmer, was Scarlett erwartet hatte, sodass sie sich bereits eine Entschuldigung um Kopf zurechtgelegt hatte, falls sie die Familie gerade beim Essen störte oder dergleichen.
Als ihr Blick aber auf die drei Körper fiel, die sich an der gegenüberliegenden Wand des Raumes befanden, wurde ihr klar, dass sie sich diese Entschuldigung sparen konnte.
Die Nelsons würden sich durch nichts mehr gestört fühlen.
Die Abgeklärtheit, mit der diese Erkenntnis Scarlett im ersten Moment traf, hätte diese beinahe zum Lachen gebracht. Nicht, weil irgendetwas hieran lustig gewesen wäre, mehr aufgrund der Skurrilität, die diese Situation innehatte.
War ihre Reaktion nicht reichlich unpassend? Sollte sie bei diesem Anblick nicht in Panik verfallen, schreien, nach draußen stürzen und um Hilfe rufen?
Stattdessen stand sie da, betrachtete die Szenerie, versuchte, zu verarbeiten, was los, was geschehen war, und war dabei nicht sonderlich erfolgreich.
Pammy, die auf dem mit rotem Flecken übersäten Teppich in der Mitte des Raumes saß, wandte sich zu ihrer Herrin um und fiepte leise.
Dieses Geräusch, so hoch und leicht verzweifelt wirkend, ließ Scarlett aus ihrer Starre erwachen.
Ein Gefühl von Übelkeit kroch in ihr hoch, mit Mühe unterdrückte sie das Bedürfnis, den Inhalt ihres Magens hier und jetzt zu entleeren.
Es überraschte sie selbst, dass sie es wirklich über sich brachte, ein paar Meter weiter in den Raum hinein und damit näher an die drei Leichen heranzugehen, um sich Pammy zu schnappen und gemeinsam mit ihr mit schnellen Schritten die Wohnung zu verlassen.
Weg von den Toten. Weg von all dem Blut.
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Besser, ihr rennt!
HorrorKaum jemand wohnt gerne in der Eastside von Red Creek, die von Armut, Kriminalität und Gewalt geprägt ist. Doch mit Beginn einer Mordserie, bei der die Opfer auf grausame Weise getötet, verstümmelt und zur Schau gestellt werden, scheint sich absolut...