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Nachdem Jonny sein Sandwich aufgegessen hatte, was beeindruckend schnell gegangen war, lehnte er sich zurück und starrte auf irgendeinen unbestimmten Punkt an der Wand.
Robin wusste nicht, worüber er nachdachte – sie hatten, seit er angefangen hatte zu essen, kein Wort mehr gesprochen. Sapphire hatte vor einigen Minuten einen Anruf bekommen und war mit einer entschuldigenden Geste aufgestanden und seitdem nicht zurückgekommen, und so saß Robin alleine mit seinem Gast am Tisch und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte.
Möglichst unauffällig musterte er Jonny. Das hatte er, seit sie hier saßen, schon einige Male getan, meist, ohne sich dessen bewusst zu sein, und ihm war klar, dass das wahrscheinlich ziemlich seltsam wirken musste.
Die Stille, die zwischen ihnen herrschte, war unangenehm, irgendwie angespannt, beinahe bedrohlich, ohne, dass er hätte sagen können, wodurch dieses Gefühl ausgelöst wurde. Möglicherweise war es die Ungewissheit. Die unausgesprochene Frage, die im Raum zu hängen schien, wie es nun weitergehen sollte. Zumindest stellte er sich diese Frage.
Gut möglich, dass Jonny nicht darüber nachdachte, dass es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, dass er, nachdem er seine heiße Schokolade ausgetrunken hatte, aufstehen und gehen würde, wohin auch immer, wahrscheinlich ohne die Absicht, jemals wieder hierher zurückzukommen.
Aber konnte Robin das wirklich zulassen?
„Warum nicht?", schoss es ihm durch den Kopf; ein kühler, emotionsloser Gedanke, der ihn mit seiner Gleichgültigkeit selbst ein wenig erschreckte. „Du kennst den Typen nicht. Ihn hierher mitgenommen zu haben ist schon mehr als genug!"
Vielleicht stimmte das. Robin wusste, dass er nicht einmal das hätte tun müssen, dass er genau so gut hätte weitergehen und den jungen Mann in dem Hauseingang hätte schlafen lassen können, ohne, dass es irgendwelche Folgen gehabt hätte. Wenn man es genau nahm, dann war es sogar verdammt riskant gewesen, einfach so einen Fremden dort draußen auf der Straße anzusprechen. In dieser Gegend konnte eine solch leichtsinnige Handlung schnell ernsthafte Verletzungen oder gar den Tod nach sich ziehen...
Ein Bild blitzte in Robins Kopf auf: Jonny, wie er grade aufgewacht war, nach seinem Rucksack griff und das Messer herausholte, Robin dabei anstarrend als wolle er ganz genau abschätzen, ob er ihn auf der Stelle angreifen sollte...
Aber Jonny hatte ihm nichts getan. Er war vielleicht ein wenig abweisend, doch das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen, schließlich war diese Situation hier für ihn nicht weniger potenziell gefährlich als für Robin. Er redete zwar nicht viel, und doch war da etwas, was den Gedanken, ihn einfach wieder gehen zu lassen, ihn alleine seinem Schicksal da draußen zu überlassen, wo er doch eben grade erzählt hatte dass er keinen Ort hatte, an dem er bleiben konnte, und der Winter immer näher rückte, in Robin ein Gefühl von Schuld auslöste.
Wieder warf er einen Blick zu Jonny. Möglicherweise bildete er es sich bloß ein, doch er hatte den Eindruck, dass Jonny seine heiße Schokolade langsamer trank, als es notwendig gewesen wäre. Nun, das wäre wohl kaum verwunderlich; draußen goss es noch immer in Strömen, schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, und die Aussicht, wieder dort hinaus zu gehen, war wohl alles andere als verlockend.
Trotzdem... auch wenn Jonny sich Zeit ließ... er würde nicht ewig hierbleiben, und wenn Robin einfach bloß weiter schweigend dasaß, in Gedanken versank, sich aber zu keiner Handlung durchringen konnte, dann würde er früher oder später gehen, und Robin mit vermutlich reichlich schlechtem Gewissen zurück lassen, mit Selbstvorwürfen darüber, dass er nichts getan hatte, um ihn aufzuhalten.
Ihn aufhalten.
Wie dramatisch das klang. Als hätte er irgendein Anrecht darauf, dieser ihm fremden Person vorzuschreiben, was sie am besten tun sollte und was nicht. Als könnte er das wirklich beurteilen.
Aber wie dem auch sei, einfach bloß stumm zu verharren war keine Option. Und so gab Robin sich Mühe, ein Lächeln aufzusetzen von dem er hoffte, dass es nicht allzu nervös wirkte, schob sein inzwischen leeres Glas von sich weg und fragte: „Und, hat das Sandwich geschmeckt?"
Smalltalk, das war gut. Normalerweise lag ihm so etwas überhaupt nicht, aber der Vorteil an solch recht banalen Floskeln war, dass sie meist unverfänglich waren.
Jonny wandte sich ihm zu, hielt diesmal sogar für einen Moment Blickkontakt, bevor er wieder die Tischplatte betrachtete und nickte. „...Ja. Es war wi-wirklich lecker."
Dass er manchmal leicht stotterte, war Robin bereits aufgefallen, er hatte jedoch nicht vor, das in irgendeiner Weise zu kommentieren. Das wäre wohl alles andere als unverfänglich gewesen.
„Schön zu hören", erwiderte er stattdessen, und sein Lächeln wurde etwas weniger gezwungen. Wenn er erst einmal angefangen hatte zu reden, dann wurde es für gewöhnlich immer leichter. „Ich mag Käsesandwichs auch gerne. Ist vielleicht kein besonders ausgefallenes Gericht, aber trotzdem."
„Für mich ist es ziemlich besonders." Jonny hatte sehr leise gesprochen, und direkt, nachdem er diese Worte hervorgebracht hatte, wirkte er, als sei er selber erschrocken darüber, dass er es getan hatte. Seine Körperhaltung, die in den letzten Minuten immer lockerer geworden war, wurde nun wieder angespannter, ein weiteres mal krallte er sich in sein Handgelenk und fixierte mit starrem Blick weiterhin die Tischplatte.
Einen Augenblick lang hatte Robin das dringende Bedürfnis, ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen.
Das tat er nicht, vor allem, da er befürchtete, dass Jonny diese Berührung keinesfalls als beruhigend empfinden würde, im Gegenteil.
Stattdessen betrachtete Robin ebenfalls den Tisch. „Gut, das kann ich mir vorstellen", gab er zu. Mit dem Smalltalk schien es vorbei zu sein, das Gespräch schien unvermeidbar auf weitaus ernstere Thematiken zuzusteuern. „Es ist für dich wahrscheinlich nicht selbstverständlich, überhaupt etwas Warmes zu essen zu bekommen, oder?"
Nun sah Jonny ihn wieder an. Kurz wirkte er verwirrt, schien nicht zu wissen, was er auf diese Aussage erwidern sollte, dann breitete sich ein Ausdruck auf seinem Gesicht aus, der etwas Spöttisches, beinahe Abwertendes an sich hatte.
„Etwas Warmes zu essen? Nein, das ist sicher nichts selbstverständlich!" Er lachte, und Robin wurde selbst klar, was für eine unnötige Frage das eigentlich gewesen war. „Es ist nicht selbstverständlich, überhaupt etwas zu essen zu bekommen! Ich weiß, das ist schwer vorstellbar für Leute, die sich noch nie über so etwas Gedanken machen mussten, aber..." Er stockte. Seine Körperspannung ließ wieder ein wenig nach, verlegen senkte er den Blick und strich sich mit einer Hand durch die Haare. „Entschuldige", murmelte er, ohne Robin dabei anzusehen.
Der zuckte bloß mit den Schultern. „Du musst dich nicht entschuldigen. Die Frage war auch...wirklich komisch." Noch immer lächelte er leicht, auch, wenn Jonny das im Moment wohl nicht sah. „Aber... dass ich mir über sowas nie Gedanken gemacht habe, stimmt nicht."
Ja, der Smalltalk war definitiv vorbei. Ohne wirklich darüber nachzudenken, war Robin dazu übergegangen, ein persönliches Thema in das Gespräch zu bringen, und dazu noch eines, über das es ihm häufig schwer viel, zu sprechen. In dieser Situation jedoch war das nicht der Fall, die Worte kamen ohne Probleme über seine Lippen, ohne, dass er wirklich über das nachdachte, was er sagte, als er fortfuhr: „Du hast mich doch vorhin gefragt, weshalb es mich so interessiert, wie es dir geht. Wo ich dich ja überhaupt nicht kenne. Und das stimmt auch, ich kenne dich nicht. Aber ich kenne die Situation, in der du dich befindest. Teilweise zumindest."
Erfreut stellte er fest, dass Jonny ihn nun wieder ansah, zwar nicht in seine Augen oder sein Gesicht, aber immerhin.
„Ich habe nie wirklich auf der Straße gelebt, ich musste nur manchmal eine Nacht draußen verbringen. Aber ich hatte eine ganze Zeitlang kein Zuhause. Ich hatte das Glück, dass ich Leute kannte, die mich bei sich übernachten ließen... wobei ich das heute nicht mehr wirklich ‚Glück' nennen würde. Wie auch immer – ich war vielleicht nie vollkommen obdachlos. Aber Geld hatte ich auch keins, oder sonst irgendwas, womit ich ein halbwegs stabiles Leben hätte führen können. Also zumindest kann ich mir wohl ansatzweise vorstellen, wie das ist."
Jonny war seiner Erzählung, die bloß eine sehr komprimierte Zusammenfassung dessen, was Robin in dieser Zeit passiert war, gewesen war, gefolgt, ohne ihn zu unterbrechen, allerdings war ihm deutlich anzumerken dass da Fragen waren, die ihm währenddessen gekommen waren, und als Robin nun fürs Erste mit seinen Schilderungen endete, fragte er zögerlich: „Du warst...mal in so einer Situation?" Er musterte Robin, lachte wieder leicht. „Tut mir leid, aber... das hätte ich jetzt nicht erwartet."
„Das nehme ich als Kompliment." Robin lachte ebenfalls. Er fühlte sich erleichtert, zwar war die Stimmung noch immer angespannt, aber zumindest wirkte Jonny nun ein kleines bisschen weniger verschlossen. „Um fair zu sein, es ist auch schon ein paar Jahre her. Seitdem hatte ich Zeit, mein Leben zumindest halbwegs auf die Reihe zu bekommen... Also, wenn man das so nennen kann. Immerhin lebe ich immer noch im kriminellsten und heruntergekommensten Viertel der Stadt! Aber es ist definitiv besser als damals."
Sein Lächeln wurde etwas abwesend, sein Blick leicht verschwommen. „Aber ich hätte das alleine wohl nicht geschafft. Sapphire hat mich damals gefunden und mich... im Grunde adoptiert." Wieder lachte er, aber es war ein wehmütiges Lachen, keines, das wirkliche Freude ausdrückte. „Ich war damals misstrauisch. Also, eigentlich auch genauso, wie du. Ich dachte mir, wieso sollte mir eine Person, die ich noch nie zuvor gesehen habe, helfen? Und dann noch in diesem Ausmaß? Eigentlich weiß ich das bis heute noch nicht so genau. Es ist einfach... Sapphires Art."
Sapphires Art, ja. Sapphires Art, die ihm damals das Leben gerettet hatte.
Jonny musterte Robin nachdenklich. Schien die Worte auf sich wirken zu lassen, sie zu überdenken und zu überlegen, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Diese Dinge, über die Robin bisher bloß einer einzigen Person gesprochen hatte – abgesehen von Sapphire selbst – und das bei Weitem nicht so kurz, nachdem sie sich kennengelernt hatte.
Wieso fiel es ihm in Jonnys Gegenwart so leicht, darüber zu reden? Bloß, weil er sich in einer ganz ähnlichen Situation befand?
Nachdenklich betrachtete Jonny seine Tasse. Irgendetwas schien in ihm vorzugehen, etwas, das ihn beschäftigte, und Robin hätte nur allzu gerne gewusst, was es war. Doch glaubte er kaum, dass Jonny darüber reden würde, und Robin würde auch nicht nachfragen. Nicht jetzt.
Vielleicht, wenn es möglicherweise einmal eine spätere Gelegenheit gäbe...
„Überraschend, dass es Leute gibt, die einem wirklich einfach nur helfen wollen." Jonny nahm einen Schluck Kakao. Sein Blick hatte noch immer diesen leicht abwesenden Ausdruck an sich, sodass Robin sich nicht ganz sicher war, ob er mit ihm sprach oder mit sich selbst.
Trotzdem entschied er sich, zu antworten: „Ja, das dachte ich mir damals auch. Aber..." Er hielt inne. Zögerte. Überlegte, wie er seine folgenden Worte wählen sollte.
Je länger sie hier so saßen, desto sicherer war er sich, dass er Jonny nicht einfach wieder nach draußen gehen lassen wollte. Es mochte unverständlich sein, die meisten hätten über so eine Vorstellung wohl bloß den Kopf geschüttelt. Aber war das wichtig? War es wichtig, was andere dachten?
„Aber ich wollte dir heute ja schließlich auch helfen", beendete er schließlich seinen zuvor begonnenen Satz.
Jonny hob den Blick, schien darüber nachzudenken, ob er darauf etwas erwidern sollte, aber Robin sprach bereits weiter; wenn er es jetzt nicht schaffte, über das zu reden was ihm durch den Kopf ging, wäre es wohl unwahrscheinlich dass dieses Gespräch noch einmal eine solch passende Gelegenheit dafür bieten würde: „Ich hab ja gemerkt, wie überrascht du warst, und ich weiß auch, dass das nicht wirklich Standard ist. Ich will auch gar nicht behaupten, dass ich ein unglaublich guter Mensch bin, weil ich mich um jeden kümmere, das stimmt auch nicht." Irgendwie verlor er gerade ein wenig den Faden. „...Egal. Jedenfalls... ich wollte dir helfen. Und..."
Wieder stockte er. Wieso war es so schwierig, das, was er dachte, auszusprechen? Sapphire tat so etwas ständig, bei ihr sah es so einfach aus, wenn sie Leuten Hilfe anbot die es nicht gewohnt waren, dass sich jemand für sie interessierte. Also wieso bekam er das nun nicht hin? Es konnte doch nicht so schwierig sein...
„Und ich würde dir gerne weiterhin helfen."
Die Worte waren wie von alleine gekommen. Hörten sich im ersten Moment fremd an, als kämen sie nicht von Robin, sondern von irgendjemand anderem. Aber dem war nicht so. Es war seine Stimme gewesen, die sie ausgesprochen hatte, ohne, dass er sich dessen bewusst gewesen war, und nun, wo sie nach draußen gedrungen waren, spürte Robin eine starke Nervosität aufsteigen.
Was tat er hier? Warum tat er es?
Vielleicht war es eben diese Nervosität, die ihn dazu brachte, einfach weiterzureden, während er versuchte, Jonnys erst verwirrten und dann skeptischen Gesichtsausdruck zu ignorieren, sich dieses Mal ganz auf das, was er sagte, zu konzentrieren: „Ich weiß, dass das seltsam klingt! Ich kenne dich nicht, und du kennst mich nicht. Du hältst mich wahrscheinlich für einen... totalen Freak! Aber ich..."
Wörter, wo waren die Wörter, die er brauchte? Wann war es ihm das letzte Mal derart schwer gefallen, sich auszudrücken?
„Aber ich würde mich wirklich nicht gut dabei fühlen, dich einfach wieder nach da draußen gehen zu lassen. Zu wissen, dass du... keinen Ort hast, an den du gehen kannst..."
Nun breitete sich ein Lächeln auf Jonnys Gesicht aus. Es war kein freundliches Lächeln, nein. Wirkte viel mehr bitter und argwöhnisch, und genau so klang auch seine Stimme, als er entgegnete: „Nun, tut mir leid, wenn du dich wegen mir schlecht fühlst. Aber das wirst du ja wohl kaum verhindern können!"
Die Worte fühlten sich ein wenig an, wie Nadelstiche. Ein weiteres Mal war Robin irritiert darüber, wie unsicher er sich in dieser Situation fühlte... gemeinsam mit Sapphire hatte er bereits mit so vielen Leuten gesprochen, denen sie ihre Hilfe angeboten hatten. War er wirklich so viel schwieriger für ihn, das alleine zu tun?
Woran auch immer es liegen mochte, er musste versuchen, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
„Ich könnte dir einen Platz zum Schlafen anbieten", murmelte er, registrierend, dass ihm das mit dem ‚Unsicherheit nicht anmerken lassen' nicht wirklich gelang. „Ich sagte ja bereits, dass es Sapphires Art ist, Leuten zu helfen. Sie besitzt einen Gebäudekomplex, direkt hier neben der Bar. Er sieht nicht schön aus, ist ziemlich heruntergekommen; na ja, wie eigentlich alles hier in der Gegend. Die Wohnungen da drin sind klein, aber... dafür gibt es eine Menge davon. Und in allen davon wohnen Menschen, die zu Sapphire gekommen sind, weil sie Hilfe brauchten. Weil sie kein Zuhause mehr hatten, oder weil sie dort nicht mehr sicher waren. Es ist... eine Art Zufluchtsort. Und ich bin mir sicher, dass es noch eine Wohnung gibt, die frei wäre..."
Das war für den Moment alles, was ihm dazu einfiel. Er wusste nicht, ob es alles war, was wichtig war, aber zumindest sollte es ausreichen, um Jonny einen Überblick über das zu geben, was er ihm da anbot, ihn davon zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen machen musste, auf irgendein obskures, fragwürdiges Angebot einzugehen. Wobei er nicht wirklich wusste, ob er das, was er da eben versucht hatte, akkurat zusammenzufassen, wirklich weniger fragwürdig klang.
Jonny sah ihn an. Er hatte beide Hände um seine Tasse gelegt, wirkte, als müsse er sich an ihr festhalten. Sein Blick hatte einen Ausdruck angenommen, den Robin nicht deuten konnte... war es bloße Verwirrung? Argwohn? ...Spott? Oder vielleicht sogar...etwas Positives?
„...Damit ich das richtig verstehe...", begann er, und sein Tonfall war ebenso unmöglich zu interpretieren, wie es bei seinem Blick der Fall war. „Du bietest mir eine Wohnung an? Einfach so? Dir...ist ja wohl bewusst, dass ich kein Geld und keinen Job habe, um dir Miete zu bezahlen!" Er lachte, und zumindest das klang eindeutig bitter.
Robin gab sich Mühe, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. „Es geht nicht um Geld, es geht..." Ja, worum eigentlich? Was genau wollte er mit alldem bezwecken? „Es geht... einfach darum, dass du die Möglichkeit hättest, dich... wieder ein wenig zu sammeln", beendete er schließlich seinen Satz, nur, um gleich darauf zu merken, wie seltsam das klang. Hastig fügte er hinzu: „Ich meine... mir hat es damals wirklich geholfen, einfach einen festen Ort zu haben, an dem ich gewohnt habe. Es war... einfach weniger stressig so. Ich konnte mein Leben ordnen, ich hab angefangen, in Sapphires Bar zu kellnern, Geld zu verdienen... und jetzt bin ich hier!"
„Oh, und du meinst, dass für mich genau das Gleiche gilt wie für dich? Dass du... ich weiß auch nicht... der Maßstab für alles bist?"
Dieses Mal konnte Robin nicht verhindern, dass er bei Jonnys Worten leicht zusammenzuckte. Ein wenig verwirrt sah er seinen Gegenüber an, versuchte ein weiteres Mal, seine Unsicherheit in den Hintergrund zu drängen, sie nicht zum Vorschein kommen zu lassen, sie sich bloß nicht anmerken zu lassen...
Irgendetwas an Jonny wirkte mit einem Mal so... anders. Nicht bloß eine einzige Sache, die klar zu benennen gewesen wäre, nein, es war viel mehr das Gesamtbild, das sich verändert zu haben schien.
Seine Körperhaltung, zuvor die ganze Zeit über angespannt und leicht zusammengesunken, wirkte mit einem Mal aufrechter, selbstbewusster, so als wolle er sich nicht länger vor irgendetwas verstecken. Sein Blick wirkte kühl, aber auf eine andere Art als die Male zuvor, und seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton angenommen, der in Robin für einen Moment den Gedanken aufkommen ließ, dass es plötzlich eine andere Person war, mit der er da sprach.
Aber das war es nicht. Es war immer noch Jonny, und dieser Anflug einer Veränderung, die vielleicht ein spontaner Ausdruck von Selbstbewusstsein oder aber eines Verteidigungsreflexes gewesen war, weil er nicht wusste, wie er auf dieses Thema reagieren sollte, verschwand ebenso schnell wieder, wie er aufgetreten war.
Als Jonny nun weitersprach klang er wieder wie vorher, und auch seine Anspannung und der vorige Ausdruck in seinem Gesicht waren zurückgekehrt. „Entschuldige bitte. Aber das klingt so simpel, wenn du das sagst! Und weißt du..." Wieder lachte er, klang dabei noch ein wenig bitterer als zuvor. „Ich lebe nicht erst seit ein paar Monaten auf der Straße. Ich hatte zwischendurch nur... eine Pause. Ich habe schon mal gedacht, dass alles besser wird. Ich habe schon mal Hilfe von jemandem angenommen. Und es ist nicht besser geworden! Im Gegenteil!"
Er nahm einen weiteren Schluck Kakao, während Robin ihn, nun geradezu erschrocken, ansah, versuchte, seine Gedanken neu zu ordnen, das, was er soeben gehört hatte, einzusortieren.
Wieder so eine Sache, die ihn an ihn selbst erinnerte. Ich habe gedacht, dass alles besser wird. Und es ist nicht besser geworden. Im Gegenteil.
Konnte er diesen Teil seiner Vergangenheit wirklich auch noch ansprechen? Verdammt, alleine, dass er darüber nachdachte, war bereits verwunderlich! Wobei... war es das wirklich? In diesem Moment wurde ihm klar, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass er sich auf so eine Weise mit einem vollkommen Fremden unterhielt, und als ihm diese Erkenntnis gekommen war, hätte er beinahe laut gelacht.
Wie viele Cocktails hatte er heute Abend noch mal getrunken? Drei? Vier?
Zu viele offensichtlich; zwar merkte er den Alkohol an sich kaum, fühlte sich lediglich ein bisschen benommen, doch das konnte er ohne Weiteres ausblenden.
Was der Alkohol aber offensichtlich noch tat, war, ihn kommunikativ zu machen. Und irgendwie auch ein wenig sentimental.
Aber war das schlimm? Oder war es, im Gegenteil, vielleicht sogar gut, dass es ihm in dieser Situation so leicht fiel, über diese Dinge zu reden, die er sonst nur schwer in Worte zu fassen vermochte? Immerhin waren seine Schilderungen bisher recht abstrakt gewesen, er hatte nichts verraten, was ihn wirklich verwundbar gemacht hätte, und Jonny schien sich ihm gegenüber zumindest ein wenig mehr zu öffnen, seit er wusste, dass Robin seine Lage bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen konnte.
Also warum nicht damit weitermachen?
Es war wohl wirklich dem Alkohol geschuldet, dass Robin nicht wirklich weiter darüber nachdachte, was er tat, obgleich ihm ohnehin grundsätzliche eine gewisse Naivität innewohnte. Irgendetwas an Jonny ließ ihn nicht glauben, dass er es bereuen könnte, ihm von diesen Dingen aus seinem Leben zu erzählen, und so begann er erneut, zu sprechen: „Ja, ich... kann verstehen, dass du das alles eher... kritisch siehst. Als ich damals... von zuhause weg bin, habe ich auch gedacht, es wird alles besser. Ich dachte, die Entscheidung, bei Freunden unterzukommen, wäre die Richtige. Das war es nicht, aber das habe ich lange nicht wirklich eingesehen. Und dann... wusste ich nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hab auch irgendwann aufgehört, zu glauben, dass es jemals wieder besser wird. Ich hab meine zweite Chance ziemlich... verkackt. Aber dann habe ich eben... noch eine Dritte bekommen."
Noch so eine sehr komprimierte Zusammenfassung, die aber dennoch das Wichtigste beinhaltete. Sie wirkte weit weniger dramatisch, als es in Wirklichkeit der Fall gewesen war, aber Robin hatte keinesfalls vor, Mitleid zu erregen oder dergleichen.
Alles was er wollte, war, dass Jonny seinem Angebot eine Chance gab.
Abwartend sah er seinen Gegenüber an, der noch immer angespannt dasaß und seine Tasse umklammerte. Nachdenklich an die Wand hinter Robin blickte, und augenscheinlich überlegte, was er auf das eben Gehörte erwidern sollte.
Das war gut, oder? Er dachte nach. Irgendetwas schienen Robins Worte in ihm ausgelöst zu haben, und das, so beschloss dieser, konnte als Erfolg verbucht werden.
Nun blieb bloß abzuwarten, wie Jonny weiter reagieren würde.

Besser, ihr rennt!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt