„Glaubst du, das er irgendwie gefährlich sein könnte?"
Überrascht sah Robin von seinem Cocktail auf – dieses Mal hatte er sich einen ohne Alkohol bestellt, dazu hatte er sich selbst gezwungen – und blickte Sapphire an. Brauchte einen Augenblick, bis er ihr folgen konnte, bis eben hatte ihre Unterhaltung sich noch um eine Schießerei vor ein paar Tagen drei Blocks weiter gedreht.
Der plötzliche Themenwechsel irritierte ihn ein wenig, ebenso wie die Frage an sich.
„Jonny?", harkte er nach, um dann auf Sapphires Nicken hin hinzuzufügen: „Wieso sollte er? Er scheint keiner der Gangs anzugehören... und wenn er irgendwelche bösen Absichten gehabt hätte, dann hätte er doch sofort versuchen können, mich anzugreifen."
Er hatte ja sogar ein Messer, fügte er in Gedanken hinzu, hütete sich jedoch, diese Tatsache laut auszusprechen. Sapphire hätte sich bloß aufgeregt.
So bestand ihre Reaktion lediglich aus einem Nicken, gedankenverloren betrachtete sie ihr mit Cranberrysaft gefülltes Glas – sie hatte es in der Zwischenzeit tatsächlich geschafft, ihren ersten und wohl auch einzigen Cocktail des Abends zu leeren – und tippte mit ihrem Zeigefinger rhythmisch gegen den Rand. Eine Eigenart, die sich immer bei ihr zeigte, wenn sie über etwas nachdachte. Was sie nun bereits seit einer ganzen Weile zu tun schien.
„Denkst... du denn, dass er gefährlich sein könnte?" Eigentlich hatte Robin diese Frage nicht stellen wollen. Sie alleine erschien ihm bereits wie eine Art Eingeständnis, als würde er damit zugeben dass er diese Option für durchaus denkbar hielt, und somit auch, dass er möglicherweise eine Entscheidung getroffen hatte, die unangenehme Konsequenzen für ihn oder Sapphire haben könnte.
Aber dem war nicht so. Er hatte die Wahrheit gesagt; er glaubte nicht daran, dass irgendetwas an Jonny bedrohlich sein könnte, auch, wenn er nicht wusste, woher er diese gefühlte Gewissheit nahm.
Wenn man es so formulierte, klang sein Handeln in der Tat nicht sonderlich gut durchdacht. Bloß neigte er eben häufig dazu, eher auf sein Gefühl als vorrangig auf seinen logischen Verstand zu hören, und dieses hatte ihm doch recht deutlich gesagt, dass er vor Jonny nichts zu befürchten hatte.
Die Antwort auf diese Frage schien auch Sapphire nicht leicht zu fallen.
Sie dachte eine ganze Weile darüber nach, während sie weiterhin gegen des Rand ihres Glases tippte, wodurch ein metronomartiges Klack-Klack-Klack ertönte. Ihr mochte das vielleicht beim Überlegen helfen – Robin hingegen machte es nervös.
„Nun... ich würde es auf jeden Fall nicht ausschließen", begann sie schließlich. „Schon rein aus Prinzip. Man kann bei niemandem mit völliger Sicherheit sagen, ob er potenziell ein Risiko darstellt, das weißt du ja wohl auch selbst."
Automatisch nickte Robin. Natürlich tat er das.
„Du kannst mir glauben, dass ich nicht erlaubt hätte, dass er bleibt, wenn ich einen ernsthaften Anhaltspunkt für einen Verdacht gehabt hätte. Du hast vollkommen recht, er hätte dich wohl ohne große Probleme da draußen angreifen können, wenn es ihm darum gegangen wäre, an Geld zu kommen..."
Nun klang ihr Tonfall vorwurfsvoll, und ebenso wirkte auch der Blick, mit dem sie Robin bedachte, was wiederum bewirkte, dass dieser sich auf der Stelle schuldig fühlte.
„Ich weiß, das war vielleicht nicht unbedingt die vernünftigste Entscheidung, einen Fremden auf der Straße anzusprechen und aufzuwecken..."
„Da kann ich dir nur zustimmen."
„...Und das hätte theoretisch auch anders ausgehen können. Ich weiß doch selber nicht, warum ich nicht einfach weitergegangen bin. Nur irgendwie hätte sich das... falsch angefühlt."
Da war es wieder – dieses Argumentieren mit Gefühlen. Robin wusste, dass Sapphire das nicht würde nachvollziehen können; es war nicht so, dass sie kein Mitgefühl und keine Empathie besaß, immerhin war sie selbst so ziemlich der hilfsbereiteste Mensch, den er kannte.
Aber niemals hätte sie ein Bauchgefühl alleine zum Anlass genommen, sich selbst in eine solch riskante Situation zu begeben. Sie hätte nachgedacht und abgewogen, und Robin musste zugeben, dass seine Handlung nicht die war, für die man sich bei einer logischen Herangehensweise entschieden hätte.
Sapphire betrachtete ihn, weiterhin mit diesem nachdenklichen Blick. Als wäre sie dabei, zu überlegen, wie sie das, was sie ihm sagen wollte, so in Worte verpacken konnte, dass er sich nicht davon angegriffen fühlen würde.
Schließlich sagte sie: „Gut, mit diesem Gefühlt hattest du ja anscheinend... zumindest vorläufig recht. Und wie gesagt, ich finde auch nicht, dass er sich irgendwie so verhalten hat dass man denken könnte, er sei nicht einfach nur jemand, der ein bisschen Hilfe gebrauchen kann. Bloß wissen können wir es eben nicht. Ich will nur, dass du das nicht vergisst."
Sie hätte das alles auch wesentlich deutlicher ausdrücken können, das wusste Robin. Hätte ihm direkt ins Gesicht sagen können, dass ein Gefühl keine Basis für eine derartige Entscheidung darstellte, dass man solche Entscheidungen rational treffe musste, wenn man Wert darauf legte, in diesem Umfeld, in dem sie sich bewegten, lange zu überlegen.
Ihm war klar, dass sie sich bei jeder anderen Person weitaus weniger diplomatisch ausgedrückt hätte als sie es bei ihm getan hatte, und dennoch änderte das nichts daran, dass ein gewisser Trotz in ihm hochkochte.
Irgendwie schienen alle Menschen um ihn herum nicht das geringste Problem mit dieser ach so fantastischen Rationalität zu haben. Nur ihm fiel es immer wieder schwer, seine Gefühle auszublenden, musste sich immer dazu zwingen, was ihm im Laufe der Jahre zwar immer leichter gefallen war, jedoch noch immer keine vollkommene Selbstverständlichkeit war.
Und heute war ihm diese Rationalität – möglicherweise vor allem durch den Effekt des Alkohol, wie er sich eingestehen mochte – wohl vollkommen abhandengekommen.
„Du hast mir damals auch geholfen, obwohl du keine Ahnung hattest, wer ich bin", murmelte er.
Es war eher eine Art Trotzreaktion, ihm war klar, dass das nicht wirklich das Gleiche war, und Sapphires Antwort zeigte, dass sie genau so dachte: „Du weißt ja wohl selbst, dass das nicht vergleichbar ist! Ja, sehr wahrscheinlich brauchte Jonny auch Hilfe, aber dich habe ich damals getroffen, als ein Haufen Gangmitglieder auf dich eingeprügelt hat! Du hast nicht bloß schlafend irgendwo rumgelegen, sondern blutend am Boden! Du wärst nicht vielleicht oder vielleicht auch nicht in absehbarer Zeit an Unterkühlung gestorben, sondern noch in dieser Nacht an deinen schweren Verletzungen! Wäre ich einfach weitergegangen anstatt dir zu helfen, dann wäre ich direkt für deinen Tod mitverantwortlich gewesen. Das wäre etwas, was ich ganz sicher nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könnte!"
Im Laufe ihrer Schilderung hatte ihre Stimme einen Klang angenommen, der ziemlich gut das widerspiegelte, was Robin bei den Erinnerungen, die die Worte in ihm hochkommen ließen, empfand: Zittrig und dünn, was so gar nicht zu ihrer sonstigen, selbstbewussten und gefassten Art zu passen schien, und was ein Ausdruck der Angst und des Schmerzes war, den dieses lange zurückliegende Erlebnis in ihnen beiden ausgelöst hatte, und es noch immer tat.
Augenblicklich verspürte Robin das Bedürfnis, aufzustehen und Sapphire zu umarmen. Sich von ihr umarmen zu lassen.
Bevor er aber das oder irgendetwas anderes tun konnte, sah Sapphire ihn bereits wieder an, und in ihrem Blick lag nun etwas entschuldigendes und zugleich liebevolles.
„Tut mir leid. Ich... wollte dich nicht daran erinnern. Das hätte ich nicht tun dürfen!"
„Schon okay", gab Robin zurück, und auch das war keine Lüge.
Sicher, es war alles andere als angenehm, an diese Nacht zu denken, in der er dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Jahre danach noch hatte es einige, augenscheinlich vollkommen unscheinbare Dinge gegeben, die als Trigger fungiert und ihn sofort all das wieder hatten durchleben lassen. Darüber zu reden war beinahe unmöglich gewesen, und Robin war sich sicher, dass er dieses Erlebnis ohne Sapphire und seine Therapeutin nicht annähernd so gut hätte verarbeiten können, wie es ihm letztlich gelungen war.
Heute war es eine schmerzhafte Erinnerung, die aber eben nicht mehr war als das: Eine Erinnerung.
Vergangen, und nicht mehr dazu fähig, ihn wirklich zu verletzen.
Sapphire musterte ihn, lächelte. Doch es war ein ernstes Lächeln, und ebenso ernst klang auch ihre Stimme, als sie erwiderte: „Nein, das ist nicht okay. Das war unsensibel. Ich wollte nur, dass dir klar ist, dass das nicht wirklich vergleichbar war, mit dem was du gemacht hast... Aber da bin diesmal wohl ich diejenige gewesen, die etwas zu emotional geworden ist."
Ihre Wortwahl war so durchdacht, wie es immer der Fall war, und dennoch merkte Robin ihr an, dass ihre Gefasstheit, die sie nach außen zur Schau stellte, nicht vollkommen echt wahr.
Sie senkte den Blick, seufzte, nahm einen Schluck von ihrem Saft. Dann fuhr sie fort: „Ich denke, du weißt, dass ich mir sehr schnell Sorgen um dich mache. Aber noch mal: Ich denke keinesfalls, dass deine Entscheidung falsch war! Ich wünschte bloß, du hättest sie aufgrund von gründlichen Überlegungen getroffen, statt wegen deines Bauchgefühls."
Robin nickte. Das, was Sapphire sagte, war ihm durchaus klar. Er wusste in der Tat, wie schnell sie sich um ihn sorgte, und es wäre gelogen gewesen zu behaupten, dass er sich darüber nicht irgendwo freuen würde.
Seit Sapphire ihn damals gerettet hatte – ihm das Leben gerettet hatte, wie sie vollkommen zutreffend festgestellt hatte – war sie zu der wichtigsten Person in seinem Leben geworden, und das basierte auf Gegenseitigkeit, auch wenn Sapphire es sich nicht immer unbedingt auf den ersten Blick anmerken ließ.
Sie war das, was früher für ihn seine Mutter gewesen war, bevor das alles zerbrochen und sein ganzes Leben aus den Fugen geraten war.
„Schön, dass... wir uns zumindest grundsätzlich einig sind", meinte er, bevor er ebenfalls nach seinem Glas griff und den kläglichen Rest der rötlichen Flüssigkeit in sich hineinkippte. „Es war auch... eine ziemlich gute Idee von dir, ihm anzubieten, dass er hier arbeiten kann. Und auch sehr nett. Du hättest ihn ja... immerhin auch einfach rausschmeißen können, bei meiner fraglichen Entscheidungsfindung."
„Oh, das hätte ich bestimmt nicht getan!", gab Sapphire zurück, und nun lächelte sie wieder, schien ihre gewohnte Fassung zurückerlangt zu haben. „Ich lege schließlich selbst auch Wert darauf, Leuten zu helfen. Ganz davon abgesehen, dass ich ja anfangs noch gar nicht wusste, wie genau euer Aufeinandertreffen abgelaufen und was dein Grund war, ihn mitzubringen. Beziehungsweise..." Sie musterte ihn, schien abzuwägen, ob sie weitersprechen sollte, und entschied sich letztlich dafür. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass... er dich an dich selbst erinnert hat. Damals. Und dass das der Grund dafür war, dass... du ihn angesprochen hast. Auch wenn ich gehofft hatte, dass es nicht der einzige Grund gewesen wäre."
Wieder einmal war Robin fasziniert davon, wie gut Sapphire seine Gedanken zu kennen schien. Möglicherweise war er auch schlichtweg leicht zu durchschauen, aber die Tatsache, dass sie quasi genau das ausgesprochen, was ihm vorhin durch den Kopf gegangen war als er sich mit Jonny unterhalten hatte, beeindruckte ihn zutiefst.
Dennoch zögerte er kurz, bevor er antwortete: „Möglich. Vielleicht hat... das da auch mit reingespielt. Aber wie kommst du darauf? Hast du da so eine große Ähnlichkeit zwischen Jonny und mir bemerkt?"
„Oh... wenn du so fragst, ja, ich finde schon, dass es da Parallelen gibt!"
Sapphire lachte und nippte an ihrem Glas. „Du warst... genau so unschlüssig, ob du meine Hilfe annehmen solltest, nachdem es dir wieder etwas besser ging. Du hast genau so viel hin und her überlegt. Und du warst genau so überfordert damit, dass jemand dir wirkliche Hilfe angeboten hat!"
Sie lächelte, und nun musste auch Robin lachen.
Wenn sie es so ausdrückte, dann war es wirklich mehr als offensichtlich. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass seine Schwierigkeiten, an der Ernsthaftigkeit von Sapphires Hilfsangebot zu glauben, derart groß gewesen waren wie es bei Jonny der Fall zu sein schien, wirkte dieser doch so, als sei er von Grund auf bereits eher misstrauisch, doch die Ähnlichkeit war nun, da Sapphire sie angesprochen hatte, nicht zu übersehen.
„Du hast wohl recht, da sind definitiv Gemeinsamkeiten", sagte er. „Aber... das spricht ja wohl auch eher dafür, dass er kein schlechter Mensch ist, oder?"
„Ich sage doch, ich glaube nicht, dass er das ist. Wirklich nicht. Ich will nur, dass du nicht zu schnell Vertrauen fasst, nur, weil ihr vielleicht viel Gemeinsam habt. Das wäre einfach... leichtsinnig."
Robin nickte. Sie hatte recht damit, dass es unklug wäre, zu schnell zu vertrauen, das wusste er, ebenso, wie er wusste, was es für Folgen haben konnte, wenn er es doch tat.
Und so schwer es ihm auch fiel – er würde sich anstrengen, dieses Wissen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
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Besser, ihr rennt!
HorrorKaum jemand wohnt gerne in der Eastside von Red Creek, die von Armut, Kriminalität und Gewalt geprägt ist. Doch mit Beginn einer Mordserie, bei der die Opfer auf grausame Weise getötet, verstümmelt und zur Schau gestellt werden, scheint sich absolut...