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Am Ende war Robin länger unterwegs gewesen, als er geplant hatte. Beinahe eine halbe Stunde hatte er am Ufer des Silversteam Rivers auf einer Bank gesessen und hinaus aufs Wasser gestarrt, das sich unter dem scheinbar immer stärker werdenden Regen stark kräuselte, bevor er überhaupt einmal einen Blick auf die Uhr geworfen und erstaunt festgestellt hatte, wie spät es bereits geworden war.
Nach dieser Erkenntnis war er sofort aufgestanden und hatte sich auf den Rückweg gemacht. Er wollte nicht, dass Sapphire sich Sorgen um ihn machte, und das würde sie tun, das wusste er, und je länger er brauchen würde, bis er wieder zurück war, desto größer würden diese Sorgen sein.
Mit schnellen Schritten ging er die Straßen zurück zur Bar entlang, den Blick dabei die meiste Zeit zu Boden gerichtet. Seine Anspannung hatte sich tatsächlich ein wenig gelöst, seine Gedanken wirkten freier, zwangloser, ohne, dass er hätte sagen können, woran genau er diesen Eindruck festmachte. Auf jeden Fall jedoch schien der Spaziergang eine gute Idee gewesen zu sein.
Er war vielleicht noch vier schmale Querstraßen von der Bar entfernt – keine drei Minuten Fußweg – als er die Gestalt sah.
Im ersten Moment, als sein Blick aus den Augenwinkeln darauf fiel, nahm er sie gar nicht als eine solche wahr, glaubte, das, was dort in diesem dunklen Hauseingang lag, wäre einfach ein Haufen alter Klamotten, den jemand dort abgelegt hatte. Als er jedoch den Kopf drehte und genauer hinsah – eher ein Reflex als eine bewusste Handlung - erkannte er, dass dem nicht so war.
Die Person, die dort auf einer dünnen Decke auf dem Steinboden lag, eingewickelt in eine zweite Decke, die ihr jedoch halb vom Körper gerutscht war und in einer Pfütze hing, schien vollkommen durchnässt zu sein. Sie schlief offensichtlich, oder zumindest hatte sie die Augen geschlossen und reagierte nicht, als Robin ein paar Schritte auf sie zumachte, allerdings war zu erkennen, dass sie atmete.
Es war ein junger Mann, Robin schätzte ihn auf vielleicht Anfang zwanzig. Seine vom Regen durchnässten, schulterlangen Haare klebten an seiner Haut, das Shirt das er trug war eindeutig viel zu dünn für diese Jahreszeit.
Red Creek war eine große Stadt. Dass Leute auf der Straße lebten war hier keine Besonderheit, so tragisch das auch war, insbesondere hier, in der von Armut und Kriminalität geplagten Eastside. Es mochte kaltherzig klingen, doch wenn man sich um jeden Obdachlosen, den man sah, Gedanken machte, würde man irgendwann wohl den Verstand verlieren.
Doch da waren zwei Dinge an dieser Person, die dafür sorgten, dass Robin sich nicht einfach umdrehte und weiterging, zurück in die Bar, um den Abend wie geplant fortzusetzen, und keinen weiteren Gedanken an diese Person zu verschwenden.
Einmal war da das Alter. Anfang zwanzig, das war kaum älter, als Robin selbst gewesen war, als er damals eine Zeit lang ohne festes Zuhause durch die Gegend gezogen war, nur, dass er immer so viel Glück gehabt hatte, dass er nie bei einem derartigen Mistwetter unter freiem Himmel hatte schlafen müssen. Und so junge Leute im Freien schlafen zu sehen war hier durchaus eine Besonderheit – die meisten von diesen gehörten einer der drei konkurrierenden Gangs an und besaßen dadurch zumindest ein Dach über dem Kopf.
Wie ein Gangmitglied wirkte diese Person jedoch nicht wirklich. Der Grund, dass Robin zu diesem Schluss kam, war zugleich auch der zweite, der für sein Innehalten verantwortlich war: Der Mann war unglaublich dürr.
Nicht, dass die den Gangs angehörigen Leute in Reichtum schwimmen würden, aber die meisten von ihnen wirken doch zumindest ansatzweise muskulös, was wohl auch notwendig war, um sich in diesem Milieu behaupten zu können. Auch Tätowierungen konnte Robin keine erkennen, welche ebenfalls ein deutliches Anzeichen für eine Gangzugehörigkeit darstellten.
Alles in allem war es eine schlichte Tatsache, resultierend aus eben diesen beiden Gründen, die verantwortlich war für das, was er im Folgenden tun würde: Robin fühlte sich stark an sich selbst erinnert.
Er hatte vielleicht nicht viele Nächte auf der Straße verbringen müssen, und die, die er durchgemacht hatte, waren laue und vor allem trockene Sommernächte gewesen, aber das hatte vollkommen ausgereicht, um ihn an das Ende seiner Kräfte zu bringen. Bis heute noch war er sich nicht im Klaren darüber, was passiert wäre, wenn er nicht auf Sapphire getroffen wäre, die sich um ihn gekümmert und ihn bei sich aufgenommen hatte, ihn behandelt hatte wie ihren eigenen Sohn.
Ob er überhaupt noch am Leben wäre. Oder ob sie ihn damals, in dieser schicksalhaften Nacht, zum Sterben zurückgelassen hätte.
Ja. Und nun stand er hier. Betrachtete diesen Typen, der ihn irgendwie so sehr an sein früheres Ich erinnerte, und machte nun sogar noch ein paar Schritte auf ihn zu, bis er vor den steinernen Stufen des Hauseingangs stand, wo er in die Hocke ging und zögerlich innehielt.
Was genau hatte er eigentlich vor?
Den Mann wecken und fragen, ob alles in Ordnung war? Die Chance, dass er mit etwas anderem als „ja" antworten würde, schätzte Robin als reichlich gering ein, so waren Menschen nun einmal; sie gaben selbst dann nicht zu, dass es ihnen nicht gut ging, wenn dies mehr als offensichtlich war. Das war es in diesem Fall, war doch deutlich zu erkennen, wie sehr der Mann im Schlaf zitterte.
Also, was war der Plan? Nun, er hatte keinen. Nicht wirklich jedenfalls. Bloß eine wage Idee, von der er nicht wirklich wusste, wie vernünftig sie war (überhaupt nicht!, flüsterte die Stimme der Vernunft in Robins Hinterkopf, die er geflissentlich zu ignorieren versuchte), aber so wage sie auch sein mochte, Robin war klar, dass sie ihn nicht mehr loslassen würde. Dass er nicht mehr einfach nach Hause gehen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ganz gleich, wie sehr er auch versuchen würde, keinerlei Empfindungen an sich heranzulassen.
Denn, obwohl er keinesfalls an eine höhere Macht oder Schicksal oder dergleichen glaubte, war da in diesem Augenblick dieser Gedanke in seinem Kopf, dass das hier seine Gelegenheit war, sich indirekt dafür zu revanchieren, dass sein eigenes Leben, das im Begriff gewesen war in eine Richtung abzudriften, in der er früher oder später wohl ebenfalls endgültig auf der Straße gelandet wäre, durch die überraschende Hilfe einer ihm damals vollkommen fremden Person eine Wendung genommen hatte. Dass es nun quasi seine Pflicht war, das Gleiche zu tun. Nicht unbedingt im selben Ausmaß wie Sapphire es damals bei ihm getan hatte, aber zumindest konnte er dafür sorgen, dass der Mann sich ein wenig aufwärmen konnte.
Also räusperte Robin sich. Setzte dazu an, etwas zu sagen, aber so weit kam er gar nicht erst.
Sein leises Räuspern hatte vollkommen ausgereicht, um den jungen Mann zusammenzucken zu lassen, er öffnete die Augen und schreckte auf, starrte Robin an während er vor ihm zurückwich, nach dem Rucksack griff der neben ihm stand und etwas aus einem halb geöffneten Seitenfach zog... Ein Messer, wie Robin auf einen Blick feststellen konnte.
Es war nicht groß, aber würde dennoch ausreichen, um ernsthafte Verletzungen zu verursachen.
Abwehrend hob Robin die Hände. „Hey, tut mir leid! Ich... wollte dich nicht erschrecken."
„Was... was wollen Sie von mir?" Wachsam fixierte der Mann seinen Gegenüber, hielt das Messer vor sich, während er sich ein wenig aufrichtete, ohne Robin dabei aus den Augen zu lassen.
Trotz der dezent überfordernden Situation schaffte Robin es, ein leichtes Lächeln aufzusetzen. Ja. Was genau wollte er eigentlich? Seiner Stimme war seine Unsicherheit ganz dezent anzumerken, als er antwortete: „Nun, ich... wollte fragen, ob ich dir irgendwie helfen kann." Wahrscheinlich war das nicht der beste Gesprächseinstieg, klang ein wenig von oben herab. Schnell fügte er hinzu: „Ich meine, es... ist ziemlich kühl, und du bist total nass..." Das schien irgendwie nur bedingt besser.
Argwöhnisch musterte der Mann ihn. „Es...geht mir gut."
Er griff nach der zur Hälfte heruntergerutschten Decke und zog sie sich wieder enger um die Schultern, wobei deutlich zu erkennen war, wie stark seine Hand zitterte.
Robin hob eine Augenbraue. „Ich will nicht unhöflich sein, aber du siehst nicht wirklich so aus, als würde es dir gut gehen." Ha, ha. Wenn das nicht unhöflich war, was dann?
Der Mann ließ das Messer ein wenig sinken, blieb aber weiterhin aufmerksam, verlor augenscheinlich nichts von seiner Wachsamkeit. Robin fragte sich, was er in diesem Moment wohl dachte. Wahrscheinlich hielt er ihn einfach für vollkommen seltsam.
„Es ist alles in Ordnung!", wiederholte er, und in seiner Stimme lag ein gewisser Trotz.
Robin unterdrückte ein Seufzen. Diese Reaktion überraschte ihn nicht, sie war zu erwarten gewesen, war mehr als verständlich. Dennoch hatte er nicht vor, sich einfach so abwimmeln zu lassen.
„Hör mal", setzte er erneut an. „Ich weiß, dass... ich auf dich wahrscheinlich grade sehr seltsam wirke! Aber ich sehe, dass es dir nicht gutgeht. Du zitterst, du bist komplett durchnässt... und das bei so einer Kälte!"
„Und was interessiert Sie das?" Jetzt klang sein Gegenüber nicht mehr bloß trotzig, sondern beinahe spöttisch.
Nun, auch das konnte Robin ihm nicht wirklich verübeln.
Mit einem leichten Lächeln, von dem er hoffte, dass es vertrauenerweckend wirken würde, entgegnete er: „Nun, weißt du... du erkennst vielleicht mich nicht, aber vielleicht sagt dir der Name ‚Sapphire Duncan' etwas."
Zu seiner Freude erkannte er im Gesicht seines Gesprächspartners eine Regung, die darauf schließen ließ, dass er durchaus etwas mit diesem Namen anfangen konnte. Unwillkürlich entspannte er sich ein wenig. Fuhr, nun ruhiger, fort: „Und vielleicht weißt du auch, dass Sapphire dafür bekannt ist, dass sie Leute unterstützt, die in Schwierigkeiten sind. Was, wie ich ja bereits sagte, auf dich zuzutreffen scheint..." Er erwartete, dass an dieser Stelle ein Widerspruch erfolgen würde, doch dem war nicht so. „Und ich arbeite mit Sapphire zusammen. Und ich will dir einfach nur anbieten, dass du mit mir in ihre Bar kommen kannst, um dich da ein wenig aufzuwärmen." Er fand, dass er es soweit doch noch ganz gut geschafft hatte, sich auszudrücken. Dann jedoch fiel ihm noch etwas ein, und er fügte seiner vorangegangenen Erklärung hinzu: „Ich bin übrigens Robin. Und wie heißt du?"
Der junge Mann schien immer noch nicht vollends überzeugt davon zu sein, dass er nicht einfach einen kompletten Freak vor sich hatte, doch zumindest hatte er das Messer sinken lassen, hielt es nun nur noch locker in der Hand, während er Robin musterte, als würde ihm das dabei helfen, einschätzen zu können, ob er die an ihn gestellte Frage wirklich beantworten sollte. Nun, was immer genau für Gedanken durch den Kopf gehen mochten, letztlich schien er zu dem Entschluss zu kommen, dass von seinem Gegenüber zumindest keine Gefahr ausging. Er ließ das Messer zurück in seinen Rucksack gleiten, Robin dabei weiterhin nicht aus den Augen lassend, und antwortete knapp: „Jonny."
Das war ein Anfang. Robin erwartete nicht, dass der Mann – Jonny – sofort damit aufhören würde, ihm zu misstrauen, das würde wohl niemand in seiner Lage tun, und das war auch vernünftig. Aber immerhin hatte er ihm seinen Namen verraten, und alleine das, beschloss Robin, würde er als Erfolg verbuchen.
Er lächelte noch ein wenig mehr, während er sein Gewicht auf sein anderes Bein verlagerte; so dazuhocken war auf Dauer verdammt anstrengend. „Okay, Jonny. Also. Kommst du mit, ins Warme? Es ist auch nicht weit, höchstens zwei, drei Minuten!"
Er sah, wie Jonny zögerte. Mit einem Mal wirkte sein Blick seltsam leer, so als wäre er in Gedanken versunken, und Robin war sich nicht sicher, ob das mit seiner Frage zusammenhing oder irgendetwas anderes vor sich ging. Es war ein wenig irritierend, dennoch entschied er, einfach abzuwarten. Schließlich war mit einem fremden Typen mitzugehen keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen sollte. Also richtete er sich ein wenig auf, streckte nacheinander seine Beine aus um seine Muskeln zu entspannen, und eine bequemere Position einzunehmen, bis Jonny seine Wahl getroffen hatte.

Besser, ihr rennt!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt