Lola hatte verschlafen.
Das passierte ihr öfters in letzter Zeit, und jedes Mal wieder schreckte sie zusammen, wenn ein Blick auf die Uhr ihr verriet, dass sie ihren Wecker ungefähr drei bis fünf Mal überhört haben musste und ihr nun noch eine halbe Stunde blieb, bis ihre Schicht ihn Sanders' Grocery Store begann, was wiederum bedeutete, dass sie in spätestens fünfzehn Minuten aus dem Haus sein musste.
Wie immer an solchen Morgen war sie ins Bad gehetzt, hatte sich ihre hüftlangen Braids hochgebunden und sich wieder einmal vorgenommen, sie demnächst um einige Zentimeter zu kürzen, hatte ihre Morgenroutine in Rekordzeit hinter sich gebracht und war dann weiter nach unten in die Küche gestürzt, wo sie nun von ihrer Mutter mit einem leicht besorgten Blick empfangen wurde.
„Hast du schon wieder verschlafen, Kind?", fragte diese und faltete die Zeitung zusammen, in der sie bis eben gelesen hatte.
Lola nickte abwesend, konzentrierte sich vorrangig darauf, sich unfallfrei Kaffee aus der immer irgendwo tropfenden Kanne einzugießen. Ganz egal wie spät sie auch dran war - ohne Kaffee brauchte sie gar nicht erst versuchen, sich dem Arbeitstag zu stellen. Spätestens nach einer halben Stunde würde sie im Stehen einschlafen.
„Ja. Muss nach dem Wecker wieder eingeschlafen sein, ich weiß auch nicht..."
„Das ist ja wohl auch kein Wunder! Du arbeitest viel zu viel!"
Zu der Besorgnis hatte sich nun auch die typische Strenge in die Stimme ihrer Mutter gemischt, vorwurfsvoll betrachtete sie ihre Tochter.
Am liebsten hätte Lola laut geseufzt.
„Es geht mir gut, Mom. Ja, es ist etwas anstrengend, aber ich komm klar!"
Etwas anstrengend war untertrieben, es gab durchaus einen Grund dafür, dass Lola jeden Abend nach ihrer Schicht in der Bar in einen komaartigen Schlaf fiel, und sich morgens, wenn der Wecker sie zur Arbeit im Supermarkt weckte, am liebsten einfach unter dem Bettdecke verkriechen und ihn ignorieren würde. Wenn sie ihn denn eben überhaupt hörte.
Mit Sicherheit sah man ihr ihre Erschöpfung auch an, auch wenn Lola so gut es ging versuchte, sie mit Make-Up zu kaschieren.
Aber selbst das hochwertigste Make-Up der Welt hätte ihre Mutter in dieser Beziehung nicht täuschen können.
Diese musterte Lola nun ein wenig argwöhnisch, schien jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu diskutieren. Stattdessen nahm sie nun einen Schluck aus ihrer eigenen Kaffeetasse, um dann abrupt mit einem neuen Thema zu beginnen: „Drüben in der Carlton Lane hat es einen Mord gegeben. Drei Tote, wohl eine Familie. Das Kind war wohl gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt. Hat mir Mrs. Walter erzählt, als ich sie vorhin beim Müllrausbringen getroffen habe."
Sie stellte ihre Tasse wieder ab, sah weiterhin zu Lola, die den Blick ihrer Mutter überrascht erwiderte.
„Mrs. Walter hat das wohl auch nur von einer Freundin gehört, die in dem Haus wohnt in dem das passiert ist, aber sie meinte, es wäre wirklich grausam gewesen. Irgendeine Racheaktion von einer der Gangs vermutlich..."
Ein Kopfschütteln. „Kannst du dir das vorstellen? Ein Kind ermorden? Gibt es da nicht irgendeinen... Ehrenkodex bei diesen Banden, der so was verbietet?"
„Ich weiß nicht", murmelte Lola, die noch dabei war zu verarbeiten, was sie eben gehört hatte.
Sie war in dieser Gegend aufgewachsen, und mittlerweile sollten sie derartige Dinge nicht mehr schockieren, und trotzdem zuckte sie noch immer innerlich zusammen, wenn sie von einem Mord oder einer tot aufgefundenen Person hörte. Nicht, dass sie es schlimm fände, noch solche Reaktionen an den Tag zu legen. Schlimmer wäre es wohl für sie, wenn sie irgendwann nur noch mit Gleichgültigkeit reagierte. Was früher oder später möglicherweise der Fall sein würde, wenn sie es nicht irgendwann schaffte, sich ein Leben außerhalb der Eastside aufzubauen, wie sie es sich bereits seit Jahren wünschte.
Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, über derartige Dinge nachzudenken.
Mit großen Schlucken trank Lola ihren Kaffee aus und stellte die leere Tasse auf der Küchentheke ab. Schnappte sich ihren Mantel, den sie wie immer über ihren Stuhl gehängt hatte und sagte, an ihre Mutter gewandt: „Ich bin dann erst mal weg. Bin gegen drei wieder da, und meine Schicht in der Bar fängt dann um fünf an. Wir können also zusammen mittagessen."
„Schön. Sei vorsichtig, Liebling." Die Besorgnis in der Stimme von Mrs. Arias war deutlich erkennbar, ebenso wie der beinahe ängstliche Blick, mit dem sie ihre Tochter musterte. „Es sind einige Cops draußen unterwegs wegen dieser Sache. Pass auf dich auf."
„Mach ich. Bis nachher", erwiderte Lola, knöpfte ihren Mantel zu und griff nach ihrer Tasche. Warf ihrer Mutter noch ein - hoffentlich beruhigendes - Lächeln zu, bevor sie sich abwandte und hinaus aus der Küche und aus der Wohnung ging.
Während sie sich in schnellem Schritt auf den Weg zur Arbeit machte schweiften ihre Gedanken ab.
Früher einmal hatte sie die Mahnungen ihrer Mutter, die diese ihr bei jeder Gelegenheit mit auf den Weg gegeben hatte, für übertrieben gehalten. Sie hatte nicht verstanden, wieso sie so sehr aufpassen sollte, wenn Polizei in der Nähe war, schließlich hatte sie noch nie in ihrem Leben etwas angestellt, wenn man von dem Kaugummi absah, das sie mit sieben Jahren am Kiosk in die Ecke eingesteckt hatte, ohne es zu bezahlen.
Mom's Warnungen waren ihr immer so willkürlich vorgekommen.
„Sei vorsichtig, wie du dich verhältst, wenn Cops in der Nähe sind", hatte Mrs. Arias Lola schon als kleines Kind eingebläut, und Lola hatte nie verstanden, warum. Der Vater ihrer besten Grundschulfreundin Cathy Martin war Polizist gewesen, und Mr. Martin hatte sich ihr gegenüber immer sehr freundlich verhalten.
Aber Lola war älter geworden, und sie hatte ihre Erfahrungen gemacht. Die sogenannten zufälligen Kontrollen auf der Straße, die irgendwie immer vorrangig sie und ihre schwarzen Freunde getroffen hatten, während einer ihrer Mitschüler, der ebenfalls manchmal mit ihnen unterwegs gewesen und dafür bekannt war, mit mindestens dreißig Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch die Innenstadt zu brettern, bis auf eine grüßende Geste keinerlei Aufmerksamkeit von den Beamten bekam.
Sie war abends auf dem Nachhauseweg von einer Freundin, die in einem der vornehmen Viertel drüben in der Westside wohnte, von einem Cop aus einem Streifenwagen heraus mit der Frage angesprochen worden, ob sie vorhabe in eine der Villen einzubrechen oder was sie ansonsten hier verloren hatte, und damals war sie fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte außer ihrem Schulrucksack nichts bei sich gehabt.
Sie hatte die Medien verfolgt, die Berichte über die Tode von Michael Brown, Walter Scott, George Floyd und unzähligen anderen Opfern rassistischer Polizeigewalt, die Proteste der Black-Lives-Matter Bewegung, aber auch die die Aufmärsche des Ku-Klux-Klans und anderer rassistisch motivierter Gruppierungen, die ihr als Kind bereits mit ihrem Auftreten Angst gemacht hatten, wenn sie sie im Fernsehen gesehen hatte.
Und spätestens, als ihre Mutter ihr dann im alter von sechzehn Jahren erzählt hatte, wie ihr Vater damals vor zehn Jahren wirklich ums Leben gekommen war, dass er bei dem Raubüberfall auf seinen Laden keinesfalls von dem Täter, sondern von einem Polizisten erschossen worden war, der der Meinung gewesen war, dass es sich bei Mr. Arias um den Schuldigen handelte und der es bevorzugt hatte erst zu schießen und dann Fragen zu stellen, war Lola klar geworden, dass all diese Warnungen keinesfalls aus der Luft gegriffen waren.
Gerne hätte sie ihrer Mutter auch heute gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte und dass es keinen Grund gäbe, weshalb ihr, einer unschuldigen Fünfundzwanzigjährigen auf dem Weg zu einem ihrer zwei Nebenjobs, etwas passieren sollte.
Aber nach all dem, was sie mittlerweile erlebt und mitbekommen hatte, wäre das schlichtweg gelogen gewesen.
Was für eine deprimierende Art, den Tag zu beginnen, schoss es Lola durch den Kopf, während sie ihr schnellen Gehtempo zu einem moderaten Laufschritt steigerte. Sie sollte versuchen, an etwas anderes zu denken als an Leichen und den in den vereinigten Staaten von Amerika strukturell verankerten Rassismus.
Ansonsten wäre sie wahrscheinlich bereits vor der Frühstückspause so frustriert, dass es ihr schwerfallen würde, sich ihre schlechte Laune den Kunden gegenüber nicht anmerken zu lassen.
Immerhin war ihr auf ihrem Weg bisher nicht ein einziges Polizeiauto oder ein Cop begegnet. Von einer erhöhten Polizeipräsenz, wie ihre Mutter sie erwähnt hatte, hatte sie bisher nichts bemerkt.
Lola war sich nicht sicher, ob sie froh darüber sein sollte, oder ob es nicht vielleicht eher besorgniserregend war, dass ein angeblich so grausamer Mord an einer ganzen Familie hier in dieser Gegend derart wenig Reaktion der Behörden hervorrief.
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Besser, ihr rennt!
HorrorKaum jemand wohnt gerne in der Eastside von Red Creek, die von Armut, Kriminalität und Gewalt geprägt ist. Doch mit Beginn einer Mordserie, bei der die Opfer auf grausame Weise getötet, verstümmelt und zur Schau gestellt werden, scheint sich absolut...