Die Bar hatte sich in der Zeit, in der Robin unterwegs gewesen war, ein wenig geleert.
Das sah Robin bereits durch die Glasscheibe der Eingangstür, als er noch davor stand und bereits im Begriff war, seine Jacke auszuziehen, um sich ihr drinnen möglichst schnell an dem direkt neben der Tür stehenden Kleiderständer entledigen zu können.
Einige der Tische waren nun unbesetzt, und allgemein wirkte die Atmosphäre ruhiger, entspannter, weniger aufgeregt als es zwangsweise der Fall war, wenn sich ein paar Dutzend Menschen auf solch relativ beengtem Raum befanden. Man merkte, dass der Abend sich dem Ende neigte, es auf Mitternacht zuging.
„Da sind wir." Lächelnd wandte Robin sich zu seinem Begleiter um, während er die Tür aufdrückte, woraufhin ihm eine Welle warmer Luft von drinnen entgegenstemmte, die sich, nachdem er durch den starken Regen doch ein wenig ausgekühlt war, ausgesprochen angenehm anfühlte.
Jonny antwortete nicht. Stand einfach bloß da uns starrte an Robin vorbei, wobei seine Hände sich um den Griff des Regenschirms klammerten, so als würde dieser ihm auf irgendeine Art Sicherheit geben. In seinen Augen war etwas zu erkennen, das vielleicht noch keine Angst, aber zumindest doch Nervosität widerspiegelte.
Ein wenig irritiert drehte Robin sich nun ganz zu ihm um, wobei die Tür wieder hinter ihm ins Schloss fiel. „Alles in Ordnung?", fragte er, hoffend, dass man ihm seine Verwirrung nicht allzu sehr anmerkte.
Nun richtete Jonny seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „J...Ja..., es...es...", begann er, brach dann ab und schloss die Augen. Roben konnte hören, wie er etwas vor sich hinflüsterte, jedoch nicht verstehen, was er sagte. Aber wahrscheinlich waren die Worte auch nicht für ihn bestimmt.
Geduldig, wenn auch weiterhin irritiert, wartete Robin ab, bis sein Gegenüber seine Gedanken weit genug geordnet hatte, um weiterzusprechen. Als es schließlich so weit war, fuhr Jonny, mit ein wenig ruhigerer Stimme, fort: „Ich war nur... überrascht, wie viele Leute da drin sind." Er lachte, es war kein amüsiertes Lachen. „Hätte ich mir auch vorher denken können, ja."
„Hast du... ein Problem mit vielen Menschen?" Dieser Gedanke erschien Robin, in Anbetracht von Jonnys beinahe verängstigter Reaktion, naheliegend. Er kannte das von sich selbst: Die Nervosität, die in einem hochkroch, wenn man sich in an einem Ort befand, an dem man von einer unübersichtlichen Menge von Leuten umgeben war. Das Gefühl, die ganze Zeit angestarrt zu werden, obwohl es dafür keinerlei Grund gab, der Glaube, dass die Menschen über einen sprachen, tuschelten, sich das Maul zerrissen. Früher war Robin regelmäßig von Panikattacken übermannt worden, sobald sich mehr als zehn Personen in seiner Nähe aufgehalten hatten, und obwohl er in diesen Situationen stets viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war um viel von seiner Umwelt mitzubekommen, die ihm in diesem Zustand ohnehin seltsam surreal und nicht greifbar erschienen war, konnte er sich vorstellen, dass er von außen ähnlich gewirkt haben musste, wie Jonny es jetzt tat.
Der unruhige Blick, der hektisch hin und her huschte. Die hochgezogenen Schultern, die angespannte Körperhaltung. Die verkrampften Hände, von der sich eine immer noch an den Griff des Regenschirms klammerte, während die andere so fest das Handgelenk umfasst hielt, dass die Haut darunter sich bereits weiß färbte. Er betrachtete Robin mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen, schien abzuwägen, ob und wie er diese Frage beantworten sollte.
Er löste seine Hand, mit der er bis eben noch seinen Arm umklammert hatte, und strich sich damit die nassen Haare aus dem Gesicht, Robin dabei weiterhin abschätzend mustern. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis er endlich antwortete: „Ein wenig, Ja. Es... macht mich einfach nervös, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ich fühle mich...unsicher."
Wieder legte er seine Hand um sein Handgelenk - so dürr, wie er war, war es ein Leichtes für ihn, es komplett zu umfassen - die Fingernägel bohrten sich in die bleiche Haut.
Ein wenig besorgt, musterte Robin ihn. „Ist schon okay", begann er, ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte, bemüht, seine Stimme beruhigend, aber nicht mitleidig klingen zu lassen. Er konnte sich vorstellen, dass Jonny auf ein derartiges Empfinden ihm gegenüber nicht grade begeistert reagieren würde. „Du kannst dich zu mir und Sapphire an den Tisch setzen, wenn du willst. Wir sitzen ganz hinten in einer der Nischen, wo man am meisten Ruhe hat. Und vor Blicken geschützt ist man dort auch recht gut. Wobei ich auch nicht glaube, dass dir jemand viel Aufmerksamkeit schenken wird."
Das stimmte. Jonny würde sich, mit seinem an einigen Stellen zerrissenen Mantel und dem alten Rucksack, den er trug, kaum von den anderen Besuchern der Bar abheben.
Sapphire mochte Wert darauf gelegt haben, die Einrichtung ihres Etablissment elegant und anschaulich zu gestalten, die Besucher hingegen wirkten allesamt nicht so, als würden sie in den höchsten sozialen Kreisen verkehren.
Das war auch überhaupt nicht das Ziel dieses Ortes. Die Bar sollte ein Zufluchtsort für diejenigen sein, die nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Für die, die ein wenig Ablenkung von ihrem Alltag brauchten, der hier, in dem verarmtesten und von Kriminalität geprägtesten Stadtteil von Red Creek, alles andere als einfach war.
Ja. Jonny würde hier kein bisschen auffallen. Viel mehr war Robin derjenige, der mit seinen relativ hochwertigen Klamotten, den eleganten Hemden und Anzügen, die Blicke auf sich zog, weil er nicht so recht in das Gesamtbild zu passen schien. Die Leute hier kannten ihn, wussten, wer er war, und trotzdem bekam er manchmal mit, wie jemand ihn argwöhnisch ansah oder verwirrt über sein Auftreten war. Mittlerweile war es ihm egal. Er wusste, dass er trotz dieses Unterschieds der Masse der Anwesenden gegenüber von diesen respektiert wurde.
Jonny allerdings schien nichts von alledem zu wissen. Er blickte durch die Glasscheibe der Tür und schien die Besucher der Bar genauestens abzuscannen, abzuwägen, ob er wirklich dort hineingehen sollte, oder ob es vielleicht besser wäre, wieder ins Dunkel der Nacht zu verschwinden.
Robin hoffte inständig, dass er nicht zu letzterem Schluss kommen würde. Er wusste nicht genau, warum... aber irgendwie fühlte er sich verantwortlich für diesen jungen Mann, den er erst vor wenigen Minuten kennengelernt und mit dem er kaum mehr als zehn Sätze gewechselt hatte.
Nun, was auch immer genau in Jonnys Gedanken vor sich gehen mochte - letztlich schien er zu dem Schluss zu kommen, dass er seine Nervosität nicht die Oberhand behalten lassen würde.
Ohne ein Wort ging er näher an Robin heran, sodass er vom Vordach der Bar ein wenig vor dem Regen geschützt wurde. Klappte den Schirm zusammen, schüttelte ihn etwas um die Tropfen zu entfernen, und sah Robin dann abwartend an.
Dieser merkte, wie ihn innerlich eine gewisse Erleichterung überkam. Ein zweites Mal drückte er die gläserne Tür auf, und ein zweites Mal schlug ihm warme Luft entgegen. „Den Schirm kannst du direkt hier abstellen", meinte er, während er selbst seinen Mantel auszog und ihn an die Garderobe hängte.
Jonny tat wie angewiesen, ließ seinen Blick dabei jedoch weiterhin durch die Bar streifen. Jede Bewegung eines der Besucher schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, jedes laute Lachen im Stimmengewirr ließ ihn leicht zusammenzucken.
Schnell wandte Robin sich ab. Höchstwahrscheinlich war es seinem Gast nicht grade angenehm, die ganze Zeit über angestarrt zu werden. „Dann komm mal mit", rief er über die Schulter, setzte sich in Bewegung und steuerte auf die hintere Ecke der Bar zu. Eine kontinuierliche Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, zeigte ihm, dass Jonny ihm folgte.
Sapphire saß noch immer an dem kleinen Tisch, an dem Robin sie zurückgelassen hatte, neben ihr, augenscheinlich unangenehmer, Robins kurz vor seinem Aufbruch bestellter Tequila Sunrise. Sie telefonierte, wie Robin aus der Nähe feststellen konnte, weshalb er auf eine verbale Begrüßung verzichtete, sich stattdessen schweigend auf seinen Platz fallen ließ und Jonny mit einer Geste bedeutete, sich auf einen der beiden freien Stühle zu setzen.
Ein wenig zögerlich leistete dieser der Anweisung Folge, warf dabei einen unsicheren Blick zu Sapphire, die ihn ihrerseits ebenfalls ein wenig irritiert, dabei aber keinesfalls unfreundlich musterte. Bemüht, möglichst leise zu sprechen, beugte Robin sich ein Stück über den Tisch, murmelte: „Willst du was trinken?"
Kurz wirkte Jonny unschlüssig, schien ernsthaft zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf.
Nicht wirklich überraschend. So misstrauisch, wie er offenbar war, vermutete er womöglich, dass man ihm irgendetwas ins Getränk mischen würde oder dergleichen.
Innerlich seufzte Robin. Sicher, es war vollkommen natürlich, wachsam zu sein, wenn man von einer fremden Person eingeladen wurde, mit ihr zu kommen, ohne, dass es dafür einen richtigen Grund zu geben schien. Aber das hier war ein öffentlicher Ort, es war nicht so, als befänden sie sich in irgendeiner abgelegenen Wohnung, wo niemand mitbekäme, wenn man schrie.
Andererseits - was wusste er schon? Er hatte keine Ahnung, was Jonny möglicherweise schon erlebt hatte, welche Erfahrungen er gemacht hatte, die dafür sorgten, dass er hier und jetzt nicht das kleinste Bisschen Unaufmerksamkeit zuließ. Robin hatte nicht vor, in wilde Spekulationen zu verfallen, sich auszumalen, was vielleicht und vielleicht auch nicht in Jonnys Vergangenheit vorgefallen sein mochte. aber irgendetwas schien dort gewesen zu sein. Dessen war er sich ganz sicher.
Trotz der Tatsache, dass Jonny sein Angebot, etwas zu Trinken zu bestellen, abgelehnt hatte, winkte Robin einen der Kellner zu sich. Wartete, bis der Mann an ihren Tisch gegangen war, bedeutete ihm dann, sich ein wenig zu ihm herunterzubeugen, und murmelte dann, weiterhin darauf bedacht, Sapphire nicht bei ihrem Telefonat zu stören: „Holen Sie uns bitte ein... zwei Handtücher."
Der Mann nickte. Warf einen kurzen Blick zu Jonny, der grade seinen durchnässten Mantel ausgezogen und über seinen Stuhl gehängt hatte, drehte sich dann um und ging zurück in Richtung Tresen.
Jonny sah ihm nach, wobei sein Blick auch immer wieder zurück zu Robin und Sapphire huschte. Er wirkte weiterhin angespannt, wachsam. Bereit, auf jede mögliche Gefahr zu reagieren.
„In Ordnung, dann sehen wir uns morgen!" Sapphires Stimme hatte ganz dezent an Lautstärke zugelegt, ein für sie typisches Zeichen dafür, dass sich das Telefonat dem Ende neigte.
Unwillkürlich wandte Robin sich ihr zu, und Jonny tat es ihm gleich, schien sich noch ein wenig mehr anzuspannen und krallte sich an die Tischplatte. Sah zu, wie Sapphire das Handy sinken ließ und den Anruf beendete, das Telefon in die neben ihr stehende Handtasche steckte, und sich dann ein wenig zu Robin drehte. Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, nicht auf irgendeine Art streng, sondern lediglich neugierig, als sie fragte: „Okay, also. Wen hast du da mitgebracht?"
Bei ihren letzten Worten hatte sie sich von Robin abgewandt, stattdessen Jonny angesehen, worüber Robin ziemlich froh gewesen war. Es hätte sich recht unwohl dabei gefühlt, über seinen Gast zu reden, als wäre dieser nicht in der Lage für sich selbst zu sprechen.
Ein Blick auf Jonny jedoch ließ die Frage in ihm aufkommen, ob das wirklich die bessere Option gewesen war.
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Besser, ihr rennt!
HorrorKaum jemand wohnt gerne in der Eastside von Red Creek, die von Armut, Kriminalität und Gewalt geprägt ist. Doch mit Beginn einer Mordserie, bei der die Opfer auf grausame Weise getötet, verstümmelt und zur Schau gestellt werden, scheint sich absolut...