21. Geheimnisse

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Die weißen Gardinen blähten sich im Wind auf und schwebten wie Geister im Türrahmen umher. Es war seltsam warm dafür, dass es auf Oktober zuging. Normalerweise hatte man im herbstlichen London mit viel Regen zu rechnen.

Ich schaute zu Leo, der mir gegenüber am Tisch saß und in seine Aufzeichnungen vertieft war.
Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, die Augenbrauen waren zusammengezogen.
Ich betrachtete die feinen Konturen seiner Lippen, die Linie seines Kiefers. Seine Haare waren ausnahmsweise mal ordentlich zurückgekämmt und glänzten fast golden in der Sonne.

Schnell wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder meinen Literaturstudien zu und tadelte mich innerlich für meine Gedanken.
Es ärgerte mich, dass die Worte «attraktiv» und «charmant» in meinem Kopf auftauchten, wann immer ich mit Leo in einem Raum war. Er war schließlich mindestens genauso arrogant. Aber leider schien mein Verstand das nicht ganz zu begreifen.

Wie auch immer, ich würde mich bestimmt nicht von einer kleinen Schwärmerei ablenken lassen und meine Ziele aus den Augen verlieren.

Ich schaute auf, weil ein kleiner Vogel auf dem Stuhl neben mir landete. Sein kleiner Kopf bewegte sich ruckartig hin und her, um seine Umgebung  zu erfassen und mir fiel auf dass es still war. Friedlich.

In den letzten paar Wochen war so viel passiert, dass mir solche Momente der Ruhe schon fast seltsam vorkamen.
Fast trügerisch. So als existierten sie nur, um die Zeit zwischen dem letzen und dem folgenden Ereignis zu überbrücken und mir kurz Zeit zum Entspannen zu geben, bevor ich erneut von der Zukunft überwältigt wurde.
Der Zukunft,von der ich kein bisschen Ahnung hatte, wie sie aussehen würde. Der Zukunft, vor der es mir oft graute.

„An was denkst du?“

Ich warf einen Blick zu Leo, der von seinen Aufzeichnungen abgelassen hatte, und zuckte mit den Schultern.

„An alles.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„An alles also, hm? Das schließt mich dann wohl ein.“

„An alles - außer an dich“, verbesserte ich und schenkte ihm ein aufgesetztes Lächeln.

Er lachte leicht.
„Schade.“

Ich verdrehte die Augen und schob mir einen Keks in den Mund.
„Warum willst du das überhaupt wissen?“

„Einfach so“, erwiderte er.
„Und außerdem... man merkt, dass dich irgendwas beschäftigt.“

„Natürlich, es ist in letzter Zeit ja auch einiges passiert“, sagte ich, „Aber davon weißt du bereits. Es wäre demzufolge überflüssig wenn ich es dir erneut erzählte.“
Ich machte eine Pause und schaute ihn forschend an.
„Du kannst ja stattdessen Mal was über dich erzählen. Wir reden dauernd nur über mich oder die Morde oder Bücher, ich habe das Gefühl, ich weiß überhaupt nicht wer du wirklich bist.“

„Okay“, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Was willst du wissen?“

Ich überlegte kurz.
„Wo bist du aufgewachsen? Hier in London?“

Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin in einer kleinen Stadt nördlich von Cambridge geboren. Habe da den Großteil meiner Jugend verbracht, bevor ich eingezogen wurde.“

Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Du warst im Krieg?“

„Jep.“
Er steckte sich eine Zigarette an und nahm ein paar Züge, schien das Thema aber nicht weiter ausführen zu wollen.

„Und was ist mit deiner Familie?“

„Was soll mir ihr sein?“

„Naja, als ich bei dir Zuhause war... Du wohnst doch alleine dort, nicht?“

Schwarz ist die Farbe der SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt