Kapitel 1

717 24 0
                                    

Es war früh am Morgen, als es klingelte. Lucas war nur im Halbschlaf, er war sofort hellwach, setzte sich verwirrt in seinem Bett auf und starrte zum Fenster. Sofort musste er an seinen Bruder denken, der ihn und seine Mutter vor Jahren verlassen hatte, doch er schüttelte den Kopf und warf die Idee gleich wieder weg, die sich in seinem Kopf einnistete.

Er schlug die Decke von sich weg, stand auf und lief gähnend die Treppen runter. Seine Mutter schlief im Wohnzimmer und es roch überall nach Zigarettenqualm und Alkohol. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder bis in den Schlaf betrunken.

Kurz stand er nachdenklich vor der Tür, war sich unsicher, ob er wirklich aufmachen sollte. Was, wenn es jemand von der Schule war, weil er nun schon seit zwei Wochen schwänzte? Was, wenn es jemand vom Gericht war, weil seine Mum schon ewig ihre stapelnden Rechnungen nicht bezahlt hatte und all die Mahnungen ignorierte?

Es klingelte noch einmal und obwohl ihm das Herz vor Angst bis zum Hals schlug, machte er die Tür vorsichtig auf und starrte direkt in die freundlichen grauen Augen einer älteren Dame. Sie stand so nah vor der Tür, dass Lucas ein wenig zurück stolperte.

»Guten Morgen. Bist du der Lucas? Ich bin Mrs. Anderson. Ist deine Mutter zufälligerweise zu Hause?« Sie rümpfte nicht mal die Nase bei dem Zigarettengestank, der aus der Wohnung waberte, ihr warmes Lächeln verrutschte um keinen Millimeter.

Lucas musterte die Frau kritisch von oben bis unten, ehe er unschuldig den Kopf schüttelte. »Sie ist gerade unterwegs«, sagte er. »Sie können ja eine Nachricht hinterlassen. Ich werd's weiterleiten.«

Die Frau warf ganz dreist einen Blick ins Wohnzimmer, doch das Sofa, auf dem seine Mutter schlief, konnte man von hier aus nicht sehen. Dann drehte sie sich um und sah zu einem Auto, das gleich neben dem Haus geparkt hatte.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Lucas langsam.

Die Frau drehte sich wieder zu ihm mit ihrem permanenten Lächeln. »Diese Angelegenheit ist leider sehr dringlich. Würdest du deine Mutter vielleicht anrufen?«

Lucas starrte sie erschrocken an. Bevor er überhaupt nachdenken konnte, was er jetzt tun sollte, hörte er im Wohnzimmer eine Glasflasche auf den Boden fallen und fluchte innerlich.

»Was war das denn?«, fragte die Frau, spähte wieder an ihm vorbei.

»Meine Katze«, wich Lucas aus, stellte sich so vor sie, dass sie nicht mehr in die Wohnung hineinsehen konnte.

Die Frau starrte ihn immer noch so eindringlich an mit ihren wintergrauen Augen, die mit einem Mal überhaupt nicht mehr warm wirkten. »Deine Katze also, aha. Dürfte ich denn kurz mal reinkommen?«

»Ich ... meine Mutter ist nicht zu Hause. Ich darf fremde Menschen nicht reinlassen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte Lucas, versuchte die Tür zuzuknallen, aber die Frau stellte einfach ihren Fuß dazwischen.

Lucas starrte mit wütenden Augen zu ihr hoch. »Sie können nicht einfach so rein kommen. Das wäre Hausfriedensbruch«, sagte er und hob stolz das Kinn an. Doch die Frau sah immer noch nicht ihn an, sondern fixierte etwas hinter ihm.

Noch bevor Lucas sich umdrehen konnte, spürte er die warme Hand seiner Mutter auf seiner Schulter und drehte erschrocken den Kopf zu ihr. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und ihre Klamotten waren zerknittert und dreckig, als hätte sie sich seit Wochen nicht umgezogen. Sie roch so stark nach Alkohol und Zigaretten, dass die Frau nun doch ihr Gesicht verzog.

»Guten Morgen, Mrs. Rice. Ich komme vom Jugendamt. Ich würde gerne kurz mit Ihnen reden.«

Seine Mutter warf Lucas einen Blick zu und nickte zur Treppe. »Geh auf dein Zimmer«, sagte sie etwas leiser zu ihm.

LuanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt