(Annie) Schweigepflicht

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Ich sitze auf einem Stuhl vor einem Schreibtisch aus dunklem, massivem Holz. Ein Stiftehalter aus dunklem Metall. Vier teuer aussehende Kugelschreiber darin. Ein gelber Textmarker. Eine Schreibunterlage in rostrot. Ein Notizbuch, lederner Einband, geflochtenes Leseband. Hinter dem Schreibtisch sitzt eine Frau. Sie hat blonde Haare, zu einem unordentlichen Dutt hoch gebunden. Ihre Brille hat viel zu große Gläser und erinnert mich an die Fotos aus den Achtzigern. Sie sitzt im Schneidersitz auf ihrem Stuhl und lächelt mich breit an. Sie wirkt viel zu jung für eine Psychotherapeutin, aber die Nachfolgerin von Samuelen hat sie mir empfohlen. Und der Arzt in der Klinik war auch begeistert von ihr. Glaube ich. Er sah die ganze Zeit so grimmig aus.
„Annie, es freut mich, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben." Ihre Stimme ist weich und beruhigend, und klingt auch furchtbar jung.
„Wir können uns hier unterhalten, aber auch gerne einen Spaziergang machen."
Ich schüttle den Kopf. „Kann ich einfach erzählen?"
Sie nickt. „Natürlich, darf ich Ihnen dazwischen Fragen stellen?" Ich zucke mit den Achseln. Soll sie doch gerne machen, wenn ihr das hilft.
„Ich bin bereit, wenn Sie es sind." Sie greift nach ihrem Notizbuch und macht es sich auf ihrem Stuhl noch bequemer. Wieso irritiert mich das so?
„Haben Sie sich meine Aussage bei Mäkinen und..." Ich zögere kurz und reibe mir über den Kopf. Darf ich ihn vor ihr beleidigen? Oder ist das unangemessen? Macht man sowas nicht? „Samuelen... gesehen?"
„Ja, als Sie mich angerufen haben, habe ich mir das Tape und die Akte schicken lassen." Ihr Gesicht strahlt unverändert.
„Und?"
„Ich habe Ihre Geschichte gehört."
„War krass, oder?" Warum tu ich das? Meine Stimme trieft vor Gehässigkeit und ich kann es nicht verhindern. Will es aber eigentlich auch gar nicht.
„Na ja, ich hab schon Schlimmeres gehört."
„Was?"
Sie legt den Kopf zur Seite. „Wollen wir nicht lieber über Ihre Historie reden, als über meine? Und vergessen Sie nicht." Sie tippt gegen ihr Diplom. „Schweigepflicht."
Ich muss grinsen. Schweigepflicht. Die hätte Sam ihr in zwei Minuten ausgetrieben. Verdammt! Jetzt hatte ich es geschafft, den ganzen Tag nicht einmal an ihn zu denken und jetzt? Ich seufze und lehne mich zurück.
„Was wollen Sie wissen?"
„Alles was Sie mir erzählen wollen."
Ich verdrehe die Augen. Was sind das denn für Psychotricks?
„Mich haben vier Männer in einer Wohnung festgehalten und wollten mich an den Meistbietenden verkaufen."
Sie schreibt.
„Einer von ihnen hat mich paar Mal vergewaltigt."
Sie hebt den Blick und sieht mich mit leicht verengten Augen an.
„Und dann hat er mir erzählt, dass er mehr für mich fühlt. Und als ich ihn dann gefragt habe, ob er mich trotzdem verkaufen will, hat er ja gesagt."
„Und warum haben Sie ihn gefragt?"
„Hä? Ist doch klar. Weil ich nicht verkauft werden wollte?"
„Also haben Sie sich bei ihm sicher gefühlt?"
Ich schnaube. Sicher? Die hat doch keine Ahnung.
„Bestimmt nicht."
„Aber?"
„Was aber?"
„Sie wollten lieber bei ihm bleiben, als bei jemand Neues?"
„Ja."
„Warum?"
„Keine Ahnung. Weil er... er hat... Ich habe mich gut mit Luke verstanden."
„Mit einem der anderen Entführer?"
Ich stutze. „Ja?"
„Also haben Sie sich doch irgendwie sicher gefühlt?"
„Weiß ich nicht. Aber woher sollte ich denn wissen, was die Käufer mit mir machen würden?"
„Also war Ihr Leben mit den Männern geregelt? Sie wussten was passieren würde?"
„Ja. Wenn ich mich an die Regeln gehalten habe, waren sie alle nett zu mir."
„Und wenn nicht?"
„Ja, was wohl? Dann hat Sam mich bestraft."
„Und das war okay?"
„Natürlich nicht!" Ich springe vom Stuhl auf und würde gerne den Tisch mit einer Armbewegung leer räumen. Ich gehe zum Fenster und stütze mich auf meinen Armen ab.
„Es war scheiße, okay? Aber ich hab die Regeln verstanden und konnte sie alle einschätzen. Sam hat sich um mich gekümmert."
„Nur er?"
„Ja, jeder hat seine eigenen Perras."
„Perras?"
„Ja, so haben sie uns genannt."
„Wissen Sie, was das bedeutet?"
Ich schüttle den Kopf. Ganz am Anfang habe ich darüber mal nachgedacht, aber irgendwann war es wie ein alt bekanntes Wort. Ein Wort, dass so wie Tisch, Hose, Lampe, einfach schon mein Leben lang da war und keine weitere Erläuterung bedurfte.
„Wollen Sie es wissen?"
Ich zucke mit den Achseln, drehe mich dann aber mit betont gleichgültiger Miene um.
„Was denn?"
„Hündinnen. Es ist spanisch."
Spanisch? Keiner von ihnen sah für mich besonders spanisch aus. Aber warum auch? Weiß ich überhaupt wie ein typischer Spanier aussieht? Ich drehe mich wieder zum Fenster und beobachte einen Mann, der in der Ferne den Rasen mäht.
„Ist das schlimm für Sie? Dass die Männer Sie und die anderen Frauen als Hündinnen bezeichnet haben?"
„Wieso sollte es das? Für sie waren wir das ja auch irgendwie, oder?"
Ich höre die Spitze ihres Kugelschreibers über das Papier fliegen.
„Zurück zum Thema. Sie wurden also nur von Sam bestraft und misshandelt?"
„Ja."
„Und zu den anderen Männern hatten Sie ein anderes Verhältnis?"
„Ja, Luke ist so zwanzig oder so. Er war wie ein kleiner Bruder. Manchmal saßen wir lange in der Küche und haben über alles Mögliche geredet. Manchmal haben wir auch Karten gespielt. Einmal, als die anderen Männer einen Tag nicht da waren, hat er mir abends was von seinem Joint abgegeben."
„Sie haben zusammen gekifft?"
Ich muss lachen, als ich mich umdrehe. Ihre Stimme klingt so schockiert. Das hätte ich gar nicht erwartet.
„Mögen Sie kein Gras?"
Sie zuckt mit den Achseln. „Und er hatte kein Problem damit, dass Sie verkauft werden sollten?"
Tiefschlag. Ich drehe mich wieder zum Fenster. „Er hat Sam drauf angesprochen. Ob er mich nicht doch behalten will. Er hat ihm gesagt, dass er das voll okay fände."
„Aber er wollte Sie nicht behalten."
„Nein. Aber dann haut er ab. Das macht doch gar keinen Sinn, oder?"
Ich werfe ihr einen Blick zu und hoffe, dass sie mir Recht gibt.
„Vielleicht konnte er aber auch nicht zu schauen, wenn Sie in anderen Hände gegeben würden."
„Dann hätte er es verhindern sollen. Ich habe ihm gehört. Es war nur seine Entscheidung. Die Anderen haben ihm das mehrmals in meinem Beisein gesagt, aber er wollte nicht."
Sie blickt nicht auf, sondern schreibt so wie es aussieht einen Roman.
„Und die anderen Männer?"
„Michael war okay. Wegen ihm hatte ich zu Beginn meiner Entführung eine ausgerenkte Schulter."
Sie sieht mich erschrocken an. „Er hat Ihnen die Schulter ausgerenkt?"
„Nein, eigentlich nicht." Ich muss lächeln. „Ich habe versucht zu fliehen und mich unter einem Bett versteckt, dass ich vorher umgeworfen hatte." Sie hüstelt verwundert, deutet mir aber an, fortzufahren.
„Er war so sauer, dass ich abhauen konnte. Wissen Sie, er dachte ich wäre schon weg. Er war also so sauer, dass er gegen das Bett getreten hat. Und da ist mir irgendwas so doof gegen die Schulter geflogen, dass sie aus dem Gelenk gesprungen ist."
„Haben Sie mit der Schulter noch Probleme?" Ich kreise mit den Schultern und schüttle den Kopf.
Als ich meine Schultern kreisen lasse, spüre ich das Fehlen meines Geschirrs. Es ist so in meinen Körper übergegangen, dass ich das Gefühl habe, als würde etwas fehlen. Ich greife an meinen Hals. Nichts. Ich fühle mich allein gelassen. Und das ist das Schlimmste. Warum fühle ich mich, als wäre mir etwas weggenommen worden?
„Glauben Sie, dass ich das Stockholmsyndrom habe?"
„Ich bin kein Fan von diesem Begriff."
„Wieso nicht?"
„Ich gebe Ihnen etwas zum Lesen mit. Wir sind schon am Ende der Stunde angekommen."
Verwirrt blicke ich auf die Uhr. Bitte was? Wie ist die Stunde denn vorbei gegangen?
„Kommen Sie morgen zu der Gruppe? Die anderen Frauen würden sich bestimmt freuen."
Gruppentherapie? Die Perras sitzen doch bestimmt eh nur da und schauen auf ihre Füße.
Ich zucke mit den Achseln. „Kann ich schon machen."
Als wir uns verabschieden, steht sie von ihrem Stuhl auf und nimmt meine Hand in ihre beiden.
„Sie machen das gut. Falls Sie ein Problem haben oder irgendetwas sofort besprechen wollen, können Sie mich gerne anrufen."

Dingo - Der Feind ich meinem Bett (Teil 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt