(Annie) Traum

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Ich verfluche mich selbst. Was hab ich mir dabei gedacht, tatsächlich zu dieser Frau zu gehen? Ja, sie scheint ganz gut und nett zu sein, aber warum gehe ich zu einer Psychofrau? Mir geht es gut. Luke wurde geschnappt und sie haben die neue und die alte Wohnung von ihnen gefunden. Die Polizei hat die neuen Perras befreit und noch ein paar Beweise gefunden. Aber Dunker war nicht aufgetaucht. Nach dem sie zur Beschauung gegangen war, war sie nicht wieder gekommen. Wahrscheinlich wurde sie verkauft. Es tut mir für sie so leid. Hätte sie keiner gekauft, wäre sie jetzt auch frei. Wahrscheinlich liegt sie jetzt auf einem Bett oder bedient einen Mann an dessen Pool, oder putzt oder sonst was. Ob sie weiß, dass wir abhauen konnten? Bis auf die paar Minuten im Badezimmer in Ecos Haus, haben wir uns fast nicht gesehen. Aber sie hatte so Angst vor der Beschauung. Sie hatte mir erzählt, dass sie wahnsinnig tollpatschig war und Angst hatte, wieder hinzufallen oder doch Lachen zu müssen. Luke hatte so lange mit ihr das normale Gehen geübt, dass sie blasen an den Füßen gehabt hatte. Ich glaube, sie war nicht darüber hinweg gekommen, dass er sie aus finanziellen Gründen entführt hatte. Ihre Stimmt klang nie so hasserfüllt, wie die der anderen Perras. Oder hat er sich vielleicht doch entschieden sie zu behalten? Aber wo war sie dann jetzt? Wenn die Polizei endlich mal die Spur der Käufer oder von Eco aufnehmen kann, finden sie vielleicht auch Dunker. Ich kenne bloß nicht ihren echten Namen, sonst hätte ich schon längt Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen. Denke ich. Und ihnen erzählt, wie toll Dunker war.

Mein Leben läuft immer noch nicht so ganz normal. Ich hatte vor der zweiten Entführung die Stadt verlassen und ein neues Leben starten wollen, mich dann aber nach der Befreiung durch die Polizei umentschieden. Meine Eltern waren anfangs so besorgt gewesen, dass ich es nicht aushielt länger als eine Stunde bei ihnen zu bleiben. Das klingt vielleicht fies, aber sie waren ja schon fast panisch. Wenn ich beim zweiten Klingeln meines Handys noch nicht abgenommen habe, haben sie die Polizei schon an der Strippe. Ich muss meiner Mutter jeden Tag, wenn ich aufstehe eine SMS schreiben, weil sie sonst spätestens mittags vor meiner Tür steht. Mein Vater wollte Kameras in meiner Wohnung installieren, damit sie jederzeit nachschauen könnten, ob ich auch sicher zuhause bin. Ich kann sie ja verstehen, aber so wird das nichts mit einem normalen Leben. Erst als ich ihnen einen lauten Vortrag gehalten habe, dass die Männer von der Polizei gesucht werden und keiner von ihnen einfach so durch unsere Stadt fahren wird, haben sie angefangen, wieder normaler zu werden. Ich mache ihnen keinen Vorwurf, aber ich muss mich um mich kümmern und kann nicht 24/7 Rücksicht auf sie nehmen. Und wenn ich ihnen erzählen würde, wie ich mich wirklich fühle, würde sie das sowieso verrückt machen. Mich macht es das auf jeden Fall.
Ich vermisse Sam.
Ich hab es gesagt.
Ich vermisse Sam.
Nicht als mein Liebhaber oder so, und auch nicht wie eine Person, die man lieb hat. Nein, es ist anders. Wenn ich morgens aufwache, warte ich teils viel zu lange, weil ich auf ihn warte. Meine Klamotten fühlen sich so fremd auf meiner Haut an. Ich weiß nicht, was es ist. Aber irgendwas fehlt mir. Er.
Ich weiß, dass das verrückt klingt. Aber es ist eben so. Kann ich auch nicht ändern.
Als ich eines Abends nicht schlafen konnte und mein Bett mir wieder viel zu eng wurde, setzte ich mich vor das Gestell, schnappte mir meinen Laptop und surfte im Internet. Ich suchte nach Geschirren für Frauen. Im Gegensatz zu meiner Erwartung so etwas nur auf Schmuddeligen Seiten im Darknet zu finden, boten viele seriös wirkende Shops für Sextoys so etwas an. Aber für Preise, die ich mir im Moment nicht leisten konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich einen Shop, der sie billiger anbot. Wahrscheinlich qualitativ nicht wirklich was wert, aber für das Gefühl sollte es reichen. Ich war kurz davor es zu bestellen, als ich merkte, wie seltsam es wäre, freiwillig so ein Ding zu tragen. Ich klappte den Laptop wieder zu und lehnte mich ans Bett. Wann würde ich wieder normal werden?

Greta, so darf ich meine Therapeutin nennen, sagt mir, dass ich gute Fortschritte mache. Das sagt sie oft. Und doch kommt mir das nicht so vor.
„Ich schlafe jede zweite Nacht vor dem Bett."
„Das wurde Ihnen ankonditioniert, sowas werden Sie nicht von einem auf den anderen Tag los."
„Ich habe im Internet nach einem Geschirr gesucht."
„Haben Sie es bestellt?"
„Nein."
„Wo ist dann das Problem?"
Dass ich es inzwischen doch bestellt habe.
Es liegt in einem Karton unter meinem Bett.

Meinen Alltag bekomme ich ansonsten ganz gut hin. Ich arbeite wieder in meiner Filiale, aber nur 20 Stunden. Meine Krankenkasse und Greta haben das entschieden und ich finde es okay.

Heute werde ich in die Stadt gehen und einkaufen. Ich brauche neue Anziehsachen. Ich habe in einem Selbsthilferatgeber im Wartezimmer eines Arztes gelesen, dass zu einem Neustart auch ein neues Outfit gehört. Zwar glaube ich normalerweise nicht an so einen Nonsens, aber andererseits könnte ich wirklich ein paar neue Sachen gebrauchen.

Die Stadt ist überfüllt. Es ist Freitagnachmittag und die Menschen haben Wochenende. Sie laufen wie kleine Ameisen durch die Straßen. Mir kommt es ein bisschen wie dieses alte Videospiel vor, bei dem man in einem Fluss von Baumstamm zu Baumstamm springen muss und immer wieder Hindernisse den Weg kreuzen. Auch hier kann man schnell auf die Schnauze fliegen, wenn man den Leuten nicht schnell genug aus dem Weg geht.
Das erste Geschäft, in das ich gehe, verlass ich nach zehn Minuten wieder, ohne etwas anzuprobieren.

Erst das vierte oder fünfte Geschäft, ich kann es gar nicht mehr sagen, schafft es mich zu begeistern. Ich finde einige Teile, die bequem und schick aussehen und decke mich mit allem möglichen ein. Eine Verkäuferin berät mich freundlich und erinnert mich an mich noch vor einigen Monaten. Ihr Job macht ihr Spaß und sie freut sich über jedes Teil, das mir gefällt. Wie ich es vermisse.
Mit drei Tüten bepackt, verlasse ich das Geschäft endlich. Es ist inzwischen dunkel und die Laternen verbreiten ein schummriges Licht. In wenigen Wochen werden sie die Weihnachtsbeleuchtung auspacken und dann wird es hier gar nicht mehr dunkel. Trotz der schon späten Jahreszeit ist es noch sehr warm und ich schwitze mit meinen schweren Tüten. Ich überlege, ob ich noch in einen weiteren Laden gehen soll, als ich von hinten eine Stimme höre. „Na Dingo. Du auch hier?"
Ich fahre erschrocken keuchend herum, und pralle gegen einen fremden Mann, der mich verärgert anmeckert. Wo kam die Stimme her? Ich schaue mich um, doch ich kann kein Gesicht erkennen. War das Sam? War das seine Stimme? Die Passanten umrunden mich und einige sehen mich neugierig an. Doch das ist mir egal. Wo ist Sam? Immer noch blicke ich mich um und suche die Straßen ab. Nirgends kann ich jemanden erkennen, der ihm auch nur ähnlich sieht. Hab ich mir das nur eingebildet? Ich atme tief durch und drängle mich aus dem Wust an Menschen an den Rand der Straße. Ich brauche Luft. Als ich es endlich geschafft habe, rutsche ich an der Fassade eines alten Gebäudes herunter und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Das kann doch nicht wahr sein. Was ist los mit mir? Warum schlug mein Herz in dem Moment als ich seine Stimme hörte schneller? Und nicht aus Angst, sondern... nein, es war keine Freude. Ich hasse ihn und er kann mich mal. Soll er sich in irgendeinem Loch vergraben und nie wieder herauskommen.

Ich schleppe mich die letzten Stufen zu meiner Wohnungstür hinauf und lasse die Tür viel zu laut hinter mir ins Schloss fallen. So müde wie heute war ich schon lange nicht mehr. Der Alltag hat mich geschafft. Es ist eigentlich alles wieder normal, aber eben auch nicht.
Ich gehe ins Badezimmer und putze meine Zähne. Im Spiegel sehe ich meine eingefallenen Augen, die dunklen Ränder und die spröden Lippen. Ich sehe furchtbar aus und daran ändert das Wasser, dass ich mir großzügig ins Gesicht spritze, nichts. Seufzend verlasse ich das Bad und schalte das Licht aus. Ich sollte einfach schlafen.

Ich schalte im Rest der Wohnung die Lichter aus und gehe den Flur zu meinem Schlafzimmer. Vor ein paar Wochen hätte ich das nicht ohne Licht geschafft. Überall mussten immer Lichter brennen, oder ich wäre weinend zusammen gebrochen. Ich denke an Greta und wie sie mir erklären würde, dass es sich nicht um die Angst vor der Dunkelheit handeln würde, sondern um die Angst vor der Ungewissheit. Ich öffne die Tür zu meinem Schlafzimmer und ohne das Licht anzuschalten, lass ich mich der vollen Länge nach aufs Bett fallen. Einfach nur schlafen. Ich spüre wie mein Körper immer schwerer wird und ich langsam in den Schlaf sinke.
Hände fassen mich an den Schultern und drehen mich auf den Rücken. Die Hände wandern gezielt meinen Körper hinauf und legen sich um meinen Mund und Hals. Wieder einer dieser verfickten Albträume.
„Dingo", die Stimme vom Traum-Sam dringt in mein Ohr. Sein warmer Atem kitzelt mich.
„Mach die Augen auf." Was für eine komische Aussage für einen Traum, aber ich tue wie geheißen und sehe seinen starken, muskulösen Körper über mir gekniet.
„Hast du mich vermisst?" Verwirrt sehe ich ihn an. Als ich nicht reagiere, verstärkt sich der Griff um meinen Hals und ich spüre wie meine Atemluft knapper wird. Ich sehe in sein Gesicht. Sein wunderschönes Gesicht, mit der dunklen Narbe an der Schläfe. Narbe?
Sams Gesicht verdunkelt sich, als er meinen Blick sieht und spreizt gekonnt mit seinen Beinen meine Schenkel.

Als sein Griff noch fester wird und ich merke, wie meine Luft doch sehr knapp ist, realisiere ich erst, dass das kein Traum sein kann. 

Es ist kein Traum. 


SAM IST IN MEINEM ZIMMER! SAM KNIET ÜBER MIR! 

Dingo - Der Feind ich meinem Bett (Teil 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt