(Annie) Kopenhagen

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„Setz dich." Er deutet auf das Bett. Ich setze mich und sehe ihn erwartungsvoll an.
Er stellt sich vor mir an die Wand und verschränkt seine Arme.
„Du wirst jetzt telefonieren."
„Was?"
„Du wirst jetzt telefonieren."
„Mit wem?"
„Allen. Arbeit, Familie, Therapeutin, Freunde." Freunde? Er weiß von meiner Therapeutin und dass ich wieder arbeite, aber nicht, dass ich seit langem meinen Freunden aus dem Weg gehe? Er scheint nachzulassen.
„Warum?"
„Du wirst ihnen sagen, dass dir die Decke auf den Kopf fällt und du zwei Wochen Urlaub machst. Du fliegst ins Ausland." Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. Warum will er das?
„Du machst zwei Wochen Urlaub in Kopenhagen."
„Warum?"
„Tu es. Wenn du es gut machst, erkläre ich dir, wie es weiter geht."

Das Gespräch mit meinem Arbeitgeber ist okay. Sie wissen was passiert ist und haben sich sowieso schon gewundert, dass ich so schnell wieder arbeiten wollte. Oder überhaupt zurück gekommen bin. Allerdings können sie mir keinen bezahlten Urlaub geben, das sei einfach zu kurzfristig. Ich mache mir in diesem Moment keine Gedanken um Geld und beteuere, dass das gar kein Problem sei und ich einfach nur für zwei Wochen nach Kopenhagen fahren würde, um den Kopf frei zu bekommen. Sie schienen mit meiner Antwort zufrieden zu sein und wünschten mir einen erholsamen Urlaub.
Sam hört die ganze Zeit mit und als ich ihm zu nicke, als sie aufgelegt hatten, zuckt sein Mundwinkel. Trotz der längeren Trennung muss ich lächeln. Dieses Zucken wärmt mir immer noch die Brust.
Nina wünscht mir viel Spaß und sagt, ich solle ihr doch eine Postkarte schicken und einen heißen Typen abschleppen. Sams Miene versteinert sich bei den Worten, doch ich lache nur und verabschiede mich.
Meine Eltern reagieren nicht ganz so entspannt, freuen sich aber trotzdem, dass ich wieder etwas Normales mache. „Schatz, hab viel Spaß in Dänemark. Aber pass gut auf dich auf. Melde dich, wenn du da bist, ok?" Mein Vater hat es immer besser geschafft, seine Angst nicht zu zeigen. Im Hintergrund höre ich meine Mutter zu ihm sagen, dass ich doch nicht alleine reisen solle, ignoriere es aber und wünsche den beiden noch einen tollen Tag.
Gretas Reaktion verstehe ich nicht so ganz.
„Gibt es einen Grund, dass Sie gerade nach Dänemark wollen?"
„Nein, ich glaube es ist schön dort."
„Und wieso genau heute? Sie haben mir am Mittwoch nicht davon erzählt. Das scheint ein ziemlich kurzfristiger Plan zu sein."
„Ja, ich habe ein gutes Angebot im Internet gesehen und musste zugreifen."
Ein längeres Schweigen, dann höre ich sie wieder.
„Annie, Sie gehören Niemanden, nur sich selbst. Passen Sie auf sich auf und Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie sich anders entscheiden."
„Eh, danke."
Sam nimmt das Telefon von meinem Ohr und legt auf.
„Was meint sie damit?"
„Weiß nicht."
„War das ein Codewort?"
„Weil ich erwarten musste, noch einmal von einem Psycho entführt zu werden?" Verdammt, mein Mund war schneller als mein Hirn. Seine Augen verziehen sich zu schlitzen und schneller als ich denken kann, liege ich bäuchlings auf dem Bett. Er drückt das Seil neben meinem Hals auf die Matratze, sodass ich ihn nicht ansehen kann.
„Was machst du da?" Wieso rede ich immer noch? Er stopft mir etwas in den Mund und reißt etwas vom Bettkasten. Klebeband.
„Wenn du schreist..." Er muss den Satz nicht zu Ende führen. Doch als der erste Schlag auf meinen Hintern niedersaust, kostet es mich alle Kraft nicht zu schreien. Seine Hand landet immer wieder im immer schneller werdenden Takt auf meiner Haut und bald brennt mein Unterkörper so sehr, dass schon der Windhauch der Hand ziept. Ich weine. Das merke ich erst spät, als sich mein ganzer Körper schüttelt und ich in einer Lache meiner Tränen liege. Er hält inne und lässt das Seil los. Erschöpft bleibe ich jedoch liegen und weine weiter.
„Gut gemacht, Dingo." Er steht auf und öffnet meinen Schrank.
„Du hast einen komischen Geschmack." Er zieht wahllos Klamotten heraus und stopft immer wieder Teile zurück, die ihm nicht zu gefallen scheinen.
„Du hast dich an die Abmachung gehalten, also erzähle ich dir, was ich mit dir vorhabe. Wir fahren heute Nachmittag los. Wo genau wir hin fahren, erzähle ich dir, wenn es soweit ist. Dort habe ich eine Wohnung in der-" er schaut sich im Zimmer um „wir nicht befürchten müssen, dass Nachbarn, Familie oder Polizei irgendetwas mitbekommen werden."
Mein Heulkrampf ist vorbei und ich schaffe es gerade noch so, ihm meinen Kopf zu zudrehen.
Er beugt sich zu mir herunter und zieht das Klebeband von meinem Mund. Ich spucke das aus, was er mir in den Mund gesteckt hat. Als ich erkenne was es ist, werde ich rot. Er hat mich mit meinem Tanga geknebelt.
„Gibt es eine Möglichkeit, dass ich nicht mitkommen muss?"
Er schnaubt.
„Du wirst lange Zeit nicht zurückkommen."
„Aber ich werde zurückkommen?"
„Bei deinem Glück? Wer weiß das schon."
„Warum nimmst du mich mit?"
„Dingo."
„Bitte. Lass mich mein Leben führen. Ich will nicht in eine anderes Land, ich will bei meinen Eltern bleiben. Bitte!"
„Hat das letztes Jahr geholfen?"
Ich schüttle langsam den Kopf.
„Und warum sollte es das jetzt?"

Wir bleiben noch eine Stunde in der Wohnung, bis er mich losbindet und mir Kleidung reicht.
„Zieh dich an."
Er nimmt die Sporttasche und meinen kleinen Koffer und wir verlassen gemeinsam die Wohnung. Ich muss das Seil tragen, wahrscheinlich um mich zu erniedrigen oder welchen perversen Grund er auch immer hat. Leider begegnen wir niemanden im Hausflur und verlassen so unbemerkt die Stadt.

Und wie ein Wunder, werden wir nicht aufgehalten. Weder von Kontrollen noch von Polizisten, die Sam erkannt haben könnten. Es scheint, dass Sam unsichtbar ist. Als könnte er wie ein Chamäleon im Trubel untergehen.
„Wir sind gleich bei der Fähre. Da kannst du schlafen."
„Fähre?!" Ich setze mich in meinem Sitz auf.
„Ja... Fähre." Er sieht mich belustigt an.
Ich schüttle den Kopf.
„Sam, nein.", Panik steigt in meiner Stimme auf.
Er zieht seine Augenbrauen zusammen. „Hast du Angst vor Schiffen?"
Hab ich das? Nein, ich glaube nicht. Aber jetzt mit ihm auf eine Fähre zu steigen und das Land zu verlassen, ohne zumindest zu versuchen mich zu wehren, scheint wie die Aufgabe meiner Selbst.
„Ja." Er seufzt und reibt sich über die Stirn.
„Dann kann ich das Training heute ja gleich weiterführen."
„Was?" Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, aber nicht damit.
„Es bedarf mehr Vertrauen und Unterwerfung sich in die Hände eines Anderen zu geben, wenn man Angst hat. Meinst du nicht?" Ich greife unauffällig nach dem Türgriff. Soll ich es versuchen? Aber was dann? Er wird mich wieder einfangen und bis auf Ärger habe ich damit nichts gewonnen.
„Willst du aus dem Auto springen?" Er grinst mich an.
„Versuch es ruhig." Er gibt Gas und ich sehe wie die Bäume an der Straße an uns vorbeifliegen.
„Los. Ich warte."
„Nein."
„Gute Entscheidung."
Wir fahren auf einen Hafen zu. Die Wasseroberfläche glitzert im Licht der untergehenden Sonne und ich versuche mir einen Moment zu nehmen, die schöne Aussicht zu genießen. Natürlich versage ich kläglich, wie soll das in einer solchen Situation aber auch möglich sein? Das Meer liegt fast ruhig vor uns, ganz im Gegensatz zu meinem Herzen, das jetzt in hundertfacher Geschwindigkeit zu schlagen scheint.
Wir fahren auf eine der Fähren zu und Sam fädelt sich hinter die anderen Fahrzeuge ein.
Vor uns stehen drei Wagen in der Schlange.
Fast nervös tippt er auf dem Lenkrad herum und blickt immer wieder in den Rückspiegel.
„Sie werden dich erkennen.", flüstere ich.
„Wollen wir wetten?" Er klingt fröhlich, aber ich sehe eine Spur Nervosität in seinen Augen. Wenn ich jetzt einem der Ticketkontrolleuren ein Zeichen geben würde, oder schnell vom Schiff springe, bevor wir ablegen? Hier draußen ist das Netz bestimmt schlecht und ich hätte eine realistische Chance meine Eltern und mich in Sicherheit zu bringen, bevor er seinen Freund erreicht. Ich sehe mich draußen um. Der Hafen ist bis auf unsere Wagen ziemlich leer, aber ich sehe eine Notfallsäule in der Ferne. Glaube ich.
Der Wagen fährt ruckelnd über die Rampe auf die Fähre. Bei jeder Rille im Boden, die der Wagen überrollt, werde ich im Sitz leicht nach oben gedrückt. Wäre mir wegen der ganzen Situation nicht schon zum Kotzen zu Mute, wäre es mir spätestens jetzt. Ich habe nur noch wenige Minuten, bis die Fähre ablegt und mir damit die Entscheidung über die Zukunft nimmt. Wenige Minuten um Sam vielleicht ein für alle mal los zu werden.
Sam parkt den Wagen unter Deck und schaltet den Motor aus. Ein breites Grinsen erscheint auf seinem Gesicht als er sich zu mir dreht.
„So, dann gehen wir mal aufs Zimmer." Er klatscht sich auf die Oberschenkel und steigt aus. Die Tür schließt sich hinter ihm und ich kann endlich durchatmen. Vor meinen Augen dreht sich alles und die Konturen verschwimmen. Tränen steigen in meinen Augen auf. Dingo, verdammt! Beweg deinen Arsch. Erschrocken ziehe ich die Luft ein, als ich merke, dass ich mich selbst Dingo genannt habe. Nein, das darf nicht passieren. Annie. ANNIE! Hinter mir öffnet sich die Heckklappe mit einem dumpfen Klick.
Jetzt oder nie.
Betont langsam öffne ich die Tür und stelle mich neben Sam. Als er sich gerade in den Kofferraum beugt, drücke ich die Klappe so fest herunter wie ich kann. Sie landet krachend auf seinem Kopf und er fällt vorneüber. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um, lasse meinen Blick durch das Geschoss wandern. Da! Ich sprinte zur Treppe und renne immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben. Meine Schritte sind auf der klapprigen Metalltreppe viel zu laut, werden aber teilweise vom Motor überdeckt. Endlich oben angekommen, schließe ich meine zitternde Hand um die Klinke und drücke. Die Tür ist schwer und so kann ich sie nur langsam öffnen. Aus Angst, er könnte schon hinter mir her sein, traue ich mich nicht, nach Sam zu sehen und schlüpfe so durch den Spalt und renne immer weiter, bis ich ins Freie gelange.
Wir bewegen uns.
Mein Blick sucht nach dem Hafen. Er ist vielleicht hundert Meter entfernt.  Ich bin zwar nicht die krasseste Schwimmerin, aber das schaffe ich. Das Meer ist so ruhig und die Spiegelung des Sonnenuntergangs beruhigt mich.

Ich hole tief Luft und renne los. 

Dingo - Der Feind ich meinem Bett (Teil 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt