» Kapitel 78 «

504 55 16
                                    

Es war schier erstaunlich, wie viel mir dieses Haus bedeutete. Nun, da ich wieder durch den von Fackeln erleuchteten langen Flur schritt, stets darauf bedacht, nicht zu schwer aufzutreten, um die restlichen Bewohner nicht zu wecken, stürmten die unterschiedlichsten Erinnerungen auf mich ein. Meine Ankunft in Wiesenthal, nachdem ich Hals über Kopf aus der Hauptstadt geflohen war und ein enormes Chaos hinterlassen hatte. Das Geplänkel von Cyryl und Marten, die ich vom ersten Augenblick an in mein Herz geschlossen hatte und von denen nur noch Cyryl am Leben war. Der köstliche Apfelsaft, den es auf dem Gestüt der Mahoneys literweise zu trinken gab, ebenso wie der Apfelkuchen, den ich zum Geburtstag bekommen hatte. Das erste Mal, das jemand daran gedacht hatte. Ich legte meine Hand auf dem Geländer der Treppe ab und ließ sie dort, während ich, Stufe für Stufe, hinabstieg. Ich erinnerte mich daran, wie ich Connor und Jeremia streiten gehört und wie sehr mich das mitgenommen hatte. Auch die geheimnisvolle Aura, mit der Jeremia sich umgeben hatte, war nach wie vor fest in meinem Gedächtnis verankert - ebenso wie die ersten Risse in seinem scheinbar undurchdringlichen Panzer, die meine Präsenz verursacht hatte. Sein Harfenspiel, seine warme melodische Stimme, seine schwieligen starken Hände... 

Der Holzboden knarrte leise unter meinen Füßen, doch auch das war mir nicht fremd. Das Haus hatte ein Eigenleben. Ich ging in die Küche, die nun in Dunkelheit getaucht war und trank ein Glas Wasser, während ich abwesend aus dem Fenster sah - und mich vor Schreck beinahe verschluckte. Die beiden gefällten Baumstämme lagen noch immer unangetastet an der Feuerstelle, in der ein winziges orangenes Feuer glomm. Die Äste waren zur Unkenntlichkeit abgebrannt. Dennoch erhaschte ich den Blick auf die Silhouette eines Mannes, den ich im ersten unbedachten Moment für Jeremia gehalten hatte. Dann allerdings erkannte ich das scharf geschnittene Profil und das helle Haar, das im Licht des Mondes glänzte. Kaelan saß auf einem der Baumstämme und hatte die Augen geschlossen. 

Ich umklammerte mein Glas ein wenig fester, ehe ich den Rest des wohltuenden Wassers hinunterkippte, es abstellte und mich auf die Tür zubewegte, die mich zu ihm nach draußen bringen würde. Ich legte eine Hand an die Klinke und überlegte, ob ich ihn stören sollte, doch schließlich siegte mein Wunsch, ihn zu sprechen über meine fieberhaften Überlegungen. Ich öffnete die Tür und trat hinaus, ehe ich sie hinter mir zufallen ließ. Das leise Geräusch wurde vom heulenden Wind überdeckt. Ich trug nicht viel mehr als ein blickdichtes Unterkleid und rieb mir die Schultern, als die Nacht mich in eine kühle Umarmung schloss. Ich rief mein Feuer auf, um mich etwas zu wärmen und betrachtete meine Hände, auf denen die Flammen tanzten. 

Was auch immer morgen kommen mochte, meine Magie war dafür bereit. 

Als ich das nächste Mal zum Eiskönig blickte, hatte er seine Augen mit einem wachen Ausdruck auf mich und im besonderen Maße auf meine flammenden Hände gerichtet. »Was machst du hier?«, fragte er sanft. »Ich dachte, du schläfst bereits.«

»Ich wollte nach dir sehen«, gab ich zu. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.«

Er lachte leise auf, der Klang hallte in mir wider und belebte all meine müden Sinne. Ich liebte sein Lachen fast so sehr wie ich ihn liebte, fast so sehr wie ich meine Magie liebte. Es stand für all das Gute, das mir widerfahren war und war ein Beweis dafür, dass all das Leid, das uns zustieß, in manchen Fällen den Weg zu etwas Größerem, Besseren ebnete. 

»Wie könntest du mich erschrecken?«, fragte er und setzte ein schiefes Grinsen auf. »Ich spüre deine Magie schon seit du dein Zimmer verlassen hast. Ein Stückweit sogar schon vorher.«

»Wie kommt es dann, dass ich die deine nur dann spüre, wenn du in meiner unmittelbaren Nähe bist oder du es darauf anlegst, dass ich sie fühle?«

Er klopfte neben sich auf den Baumstamm und ich setzte mich. In seinen Augen tanzten die Sterne, die im Himmel standen. Ich versank. »Es muss doch ein paar Dinge geben, die ich besser kann als du«, flüsterte er verschwörerisch. »Alles andere wäre doch absolut öde.«

REBORN TO RISE (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt